47. Disziplin muss sein Aus «Politiker wider Willen»
Bei den Staatsratswahlen in Genf erzielen die Sozialisten einen sensationellen Erfolg. Bisher in der Regierung nicht vertreten, gewinnen sie gleich vier der sieben Sitze. Der im Oktober aus dem Gefängnis entlassene «Revolutionär» Léon Nicole wird als Justiz- und Polizeidirektor die Kantonsregierung präsidieren. Das demokratische Verdikt des Genfer Volkes verunmöglicht es dem Nationalrat, den unbequemen Genfer Volkstribun weiter von seinen Sitzungen auszuschliessen.
In der Nacht auf den 4. Dezember fahren siebzehn mit treuen Sozialisten gefüllte Autocars von Genf nach Bern, um Nicoles triumphalen Einzug ins Bundeshaus zu feiern. Es ist dunkel, neblig und unfreundlich, als kurz nach sechs Uhr der Genfer Sozialistenchef, von einigen Damen begleitet, sich einen Weg durch die auf dem Bundesplatz wartende Menge bahnt. Vor vollen Tribunen eröffnet der abtretende Präsident Ruggero Dollfus die Sitzung. Drei rote Blumensträusse werden von den Weibeln wie Kerzen in den Saal getragen. «M. Nicole – noblesse oblige – erhält rote Rosen. Nur die Königin der Blumen war würdig, seinen Aufstieg aufs Kapitol zu schmücken.» Zwei andere sozialistische Genfer Nationalräte, «Würdenträger zweiten Ranges», kriegen Nelken.
Die Stimmung unter der Bundeskuppel bleibt an den folgenden Tagen moros. Beherrschendes Thema ist die Rettung der vom Bankrott bedrohten Volksbank und ihrer halben Million Sparer mit einem Bundesbeitrag von 100 Millionen Franken. Der Bundesrat ist sich einig: Der Bankenplatz Schweiz darf nicht gefährdet werden, die Schweizer Wirtschaft hängt von ihm ab.
Pilet muss eine unliebsame, von 32 Sozialdemokraten mitunterzeichnete Interpellation des Waadtländer Nationalrats Paul Perrin zum Disziplinarwesen in der Bundesverwaltung beantworten. Perrin ist stellvertretender Generalsekretär des Eisenbahnerverbands und ehemaliger Leiter des Telegrafenamts der SBB in Neuenburg. Weil er gelegentlich selbst als Amateuranwalt gemassregelte Bundesbeamte vertritt, kennt er das Disziplinarwesen in der Verwaltung bestens.
Als Pilet erfährt, dass die Interpellation auf den Fall des von Perrin vertretenen Lokomotivführers Daudin zurückgeht, lässt er sich von der SBB-Generaldirektion ein Dossier über kontroverse Disziplinarfälle zusammenstellten. Sorgfältig studiert er vor allem die Akte Daudin.
Im vergangenen März hatte der aktive Gewerkschafter Daudin in der Pause eines Tanzanlasses in St-Maurice eine politische Brandrede gehalten, in der er Regierung und Militär wegen ihres Verhaltens bei den Genfer Ereignissen angriff. Dabei sprach er von einem «Massaker» und einem «Racheakt gegen Nicole». Er trug die Bähnler-Uniform. Zwei lokale Zeitungen empörten sich, eine Untersuchung wurde eingeleitet und Daudin mit 10 Tagen Suspension vom Dienst, Versetzung nach La Chaux-de-Fonds, Auferlegung der Umzugskosten und Androhung fristloser Entlassung bestraft. Die vom Betroffenen angerufene unabhängige Disziplinarkommission milderte das Urteil ab – 5 Tage Suspension, keine Auferlegung der Umzugskosten und keine Entlassungsandrohung. Doch der Präsident der SBB-Generaldirektion Schrafl wies den Antrag der Disziplinarkommission persönlich zurück und bestätigte die ursprünglichen Sanktionen.
In der Begründung seiner Interpellation kommt Perrin ohne Namensnennung zur Geschichte des Zugführers Daudin: «In einem Disziplinarfall, den Herr Bundesrat kennt, ist die Verwaltung kürzlich gegen einen ihrer besten Beamten in den Krieg gezogen.» In der Untersuchung habe man anonymen Zeugen der Anklage blind Glauben geschenkt. Die Aussagen der Entlastungszeugen habe man bezweifelt und diese gar verspottet. Auf solch zerbrechlicher Grundlage habe man ein Anklagegerüst gezimmert und den Beamten und mit ihm seine unschuldige Familie schwer bestraft. Perrin ist vor allem empört, dass die SBB-Generaldirektion den Anträgen der Disziplinarkommission auf Milderung der Sanktionen nicht gefolgt ist.
Weiter nennt Perrin Fälle, in denen Beamte entlassen oder pensioniert wurden, nur weil sie dem Vorgesetzten nicht behagten. Departementschef Pilet-Golaz möge sich künftig vermehrt persönlich dieser Disziplinarfälle annehmen und einen bon coup de joran ou de vaudaire (einen tüchtigen waadtländischen Windstoss) über die Grosse Schanze und das Brückfeld hinwegfegen lassen. An beiden Orten standen Dienstgebäude der SBB.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
In seiner Antwort belehrt Bundesrat Pilet-Golaz Nationalrat Perrin, dass er, «Gott sei gelobt», nicht Direktor der Bundesbahnen ist und sich dort nicht in Disziplinarfälle einmische. Schrafls Sturheit im Fall Daudin hat auch ihm offensichtlich nicht gefallen. Als «Herr der Post» obliegt Pilet jedoch die Kontrolle über alle Disziplinarmassnahmen in der PTT. Nur in einem Fall habe er selber eingegriffen. Es ging um Telegrafisten, die in der Arbeitszeit betrunken waren. Die Rekurskommission hatte die gegen die Beamten verhängten Bussen herabgesetzt und für den Vorgesetzten und die Untergebenen eine gleich hohe Busse vorgeschlagen.
«Nie», erklärt Pilet, «würde ich diese Theorie annehmen, denn ich war Vorgesetzter und bin es immer noch.» Deshalb habe er die Busse für den Vorgesetzten von 40 Franken auf 75 erhöht. Die Strenge, mit der man in der Verwaltung gegen den Alkoholismus vorgehe, werde von vielen Beamten geschätzt. «Übrigens tun wir dies nicht allein für die Beamten und die Verwaltung, sondern für ihre Familien, von denen M. Perrin eben gesprochen hat.»
In der Interpellation wird der Bundesrat gefragt, ob die Disziplinarvorschriften nicht weitherziger angewendet werden könnten. Pilets Antwort: Weder grosszügig noch engherzig, sondern gerecht. Nicht nachsichtig, auch nicht zu streng.
Wenn ich zwischen Strenge und Nachsicht wählen müsste, würde ich übrigens im Interesse der Beamten selber die Strenge wählen. Die grosse Mehrheit der Beamten wird von keinen disziplinarischen Sanktionen getroffen, weil diese für sie nicht nötig sind.
Tags darauf schon wieder eine Interpellation des unermüdlichen Vallotton. Dieser will, dass 1934 zum «Jahr der Schweiz» erklärt wird. Zweck: Belebung des Tourismus, Verbesserung der «tragischen Lage» der SBB und der Hotels.
In seiner Antwort macht Pilet kurzen Prozess. Er will vom vorgeschlagenen «Jahr der Schweiz» nichts wissen: Was würde ein Rekordjahr im Fremdenverkehr bringen? «Es würde ihr nichts nützen, ein Rekordjahr zu haben, und dann die Leere.» Man wolle auch keinen gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Wenn man 1934 zum Jahr der Schweiz erkläre, habe man dann 1935 und 1936 plötzlich das Jahr Österreichs, Belgiens oder Schottlands.
Nötig seien kontinuierliche, permanente, dauerhafte Massnahmen. Die Schweiz müsse den «internationalen Ruf zurückgewinnen, den wir teilweise verloren haben». Die nötigen Instrumente seien bereit und würden zu Jahresende in Kraft treten. Pilet hat den neuen Angriff von Freund Henry elegant abgeschmettert.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany