46. Es gibt auch «gute» Deutsche Aus «Staatsmann im Sturm»

Am Sonntag, 14. Juli, ereignet sich auf der kurvenreichen Strasse, die von Plaffeien nach Guggisberg hinaufführt, ein schwerer Verkehrsunfall. Der 58-jährige Totengräber von Guggisberg rast auf seinem Fahrrad in Schussfahrt talwärts Richtung Sense, stösst dabei frontal mit einem Personenwagen zusammen und prallt auf dem Kühler auf. Der Velofahrer ist sofort tot. Passanten sammeln sich. Der Untersuchungsrichter von Schwarzenburg wird telefonisch herbeigerufen. Am Steuer des am Unfall beteiligten Wagens sass der deutsche Gesandte Minister Köcher. Begleitet von seiner Frau und seiner Privatsekretärin, befand er sich auf der Rückfahrt von einem Sonntagsausflug auf die Kaiseregg.

Tags darauf meldet sich Köchers Sekretärin im Auftrag des sich dienstlich in Genf befindenden Gesandten telefonisch beim Politischen Departement. Sie berichtet Legationsrat Feldscher vom gestrigen Unfall im Schwarzenburgerland. Es sei «dabei zu keinerlei Zwischenfällen oder auch nur zu unangenehmen Bemerkungen gekommen», obwohl Frau Köcher und sie selber «hochdeutsch gesprochen hätten». Der in der Rheinstadt aufgewachsene Minister Köcher redet das Baseldytsch seiner Schweizer Mutter. Die Privatsekretärin ist froh, dass «die anwesenden Schweizer im Gegenteil sich sehr dienstfertig und bereitwillig gezeigt haben». Dies ist nicht selbstverständlich. Seit der Machtübernahme Hitlers werden Sauschwoben in der Schweiz gerne angepöbelt. Weiter teilt die Sekretärin mit, der Gesandte bitte das Politische Departement, sich darum zu bemühen, dass die Presse «keinerlei Meldung von dem Vorfall veröffentliche».

Feldscher erkundigt sich beim Kommandanten der Berner Kantonspolizei, der bestätigt, dass nach dem vorläufigen Bericht des Untersuchungsrichters Köcher kein Verschulden treffe. Die Presse wird von der Polizei nicht benachrichtigt. Tags darauf telefoniert Köcher selber Feldscher, um die Meldung seiner Sekretärin «über das sehr bedauerliche Unglück» zu bestätigen:

Herr Köcher bittet nachdrücklich, ihn unverzüglich zu verständigen, falls der leiseste Verdacht an seiner vollkommenen Schuldlosigkeit aufkäme, damit ihm Gelegenheit geboten werde, sich ungesäumt mit allen Mitteln zu verteidigen. Ich habe ihm dies zugesagt.

Feldschers für Pilet abgefasste Notiz zeugt vom Vertrauensverhältnis zwischen dem deutschen Gesandten und dem Politischen Departement.

Wenn Köcher sich am 15. Juli nicht selber bei Pilet meldete, ist dies seiner dienstlichen Abwesenheit in Genf zuzuschreiben. Er war nämlich bei C. J. Burckhardt zu einem privaten Essen eingeladen. Ging es dabei einzig um Fragen des IKRK oder kamen allfällige Friedensfühler zur Sprache? Zweifellos wird Burckhardt, so, wie er dies eine Woche zuvor bei Pilet und Kelly getan hat, von seiner Berlin-Reise berichtet haben. Natürlich gibt es keine Aufzeichnungen vom Genfer Diner.

Die wenigen aussenpolitischen Karten, die Aussenminister Pilet in der Hand hat, muss er geschickt spielen. Ein As in seinem Spiel ist das IKRK in Genf, das für die Registrierung – wenn möglich auch den Schutz – der im Frankreichkrieg gefangen genommenen Soldaten zuständig ist. Pilet weiss, dass das Rote Kreuz auch in Deutschland geschätzt wird, angeblich sogar von Hitler. Aus humanitären wie aus realpolitischen Gründen lohnt es sich für den Bundesrat, dem IKRK finanziell, personell und diplomatisch unter die Arme zu greifen.

Jacques Chenevière, ein feinfühliger Genfer Schriftsteller und Mitglied des IKRK, leitet dessen Zentralstelle für Kriegsgefangene. Als er eines Nachmittags das Telefon abnimmt, meldet sich zu seinem Erstaunen Bundespräsident Pilet-Golaz persönlich. Er bittet ihn, so rasch wie möglich im Politischen Departement vorbeizukommen. Am nächsten Tag nimmt Chenevière den Zug nach Bern und steigt kurz vor Mittag die Bundeshaustreppe hinauf, wo er von einem Weibel in Pilets Büro geführt wird. In einem Memoirenbändchen wird er sich später erinnern:

Der hohe Magistrat kommt mit ausgestreckter Hand zu mir. Ungefähr fünfzig Jahre alt; schmales Gesicht, die Stirn von einer flachen, schwarzen Locke umrandet. Im Auge lässt seine offenkundige Intelligenz – so hat man mir gesagt – gelegentlich einen Blitz von Gewitztheit durchscheinen. Aber in diesem Augenblick schaut mir der hinter seinem Schreibtisch sitzende Mann gerade in die Augen. Seine Stirn und seine Gesichtszüge verraten Müdigkeit und Spannung. Sofort und, wie es mir scheint, fast mechanisch, aber immer ohne mich aus den Augen zu lassen, befragt er mich über die Arbeit des Roten Kreuzes.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Bald unterbricht Pilet seinen Gesprächspartner und lobt selber das «bedeutende Werk», welches das IKRK für die gefangenen und verschollenen Soldaten tue. Könnte sich die Genfer Institution eventuell auch um Zivilpersonen kümmern, die von den Konventionen vorläufig noch nicht geschützt werden? Chenevière ist nicht klar, was Pilet mit dieser Frage bezweckt. Was will der Bundespräsident von ihm eigentlich? Pilet fährt mit der «gemessenen Leichtigkeit des Anwalts, der sich selber ein bisschen zuhört», fort:

«Ich stelle mir vor, dass einer der Kriegführenden Sie mit einem dringlichen Wunsch überrascht – einem Wunsch ausserhalb des normalen Programms, wenn ich so sagen darf –, und dass unbeabsichtigt … oder nicht … (die zwei Silben betont er und ein zweideutiges Lächeln gleitet unter das Schnäuzchen) dieser Kriegsführende, stelle ich mir vor, damit die Nützlichkeit des Roten Kreuzes auf die Probe stellen will. Nehmen wir dies an. (Der Ton wird plötzlich ernst.) Dann wäre es entscheidend, dass das auf unserem Boden installierte und von unserer Neutralität unterstützte IKRK seine einzigartige Wirksamkeit beweist. Dass es also nicht zögert, sich zu engagieren, auch wenn es sich um eine sehr schwierige Aufgabe handeln sollte. Vorausgesetzt natürlich, dass sie dem Geist des Roten Kreuzes entspricht…, selbst wenn dabei, vielleicht dem strikten Buchstaben nach, die Konventionen überschritten werden. Immer im Dienst der Opfer.»

«Ich stelle mir vor», «nehmen wir an» … Seine ihm einst im Militärdienst unterstellten Offiziere und Soldaten kennen Pilets Hang zu Geheimnistuerei und sibyllinischen Aussagen. Im Gespräch mit dem IKRK-Mann erwähnt der Bundespräsidenten noch, dass er selbstverständlich die «totale Unabhängigkeit» der Genfer Institution respektiere und ihm seine Mitteilung «unter vier Augen» vertraulich gemacht habe. Chenevière weiss immer noch nicht, was für einen hypothetischen Fall der Bundespräsident meinen könnte, und hakt nach: Worum genau geht es, kann er präzisieren? Pilet:

«Das Unvorhersehbare präzisieren? Nein. Ah! Noch dies: Sie können in irgendeinem Land auf die praktische Unterstützung unserer Gesandtschaften und Konsulate zurückgreifen. Sie sind benachrichtigt. Unnötig, Bern anzufragen. Informieren Sie mich einfach nachträglich, was man von Ihnen verlangt hat. Voilà. Merci, dass Sie so prompt gekommen sind.» Er stösst das Löschblatt auf seinem Pult zurück. Ich spüre, dass er nichts hinzufügen wird. Alles ist gesagt und gemäss seiner Bedeutung gesagt. Er begleitet mich bis zur Türe. Und, nachdenklich oder zerstreut, äussert er: «Der Krieg ist von niemandem weit weg, heute.»

Wenige Tage später meldet sich der deutsche Generalkonsul Wolfgang Krauel bei Chenevière mit einem «wichtigen Anliegen». Auf der niederländischen Insel Curaçao sind sechzig Mitglieder der deutschen Handelsmarine interniert worden. Kann das IKRK sie besuchen, obschon es sich um Zivilisten handelt? Vom Schweizer Konsulat in Bogotá erfährt Chenevière, dass die deutschen Seeleute auf der Insel Bonaire festgehalten werden. Ein in Curaçao lebender Schweizer wird zum improvisierten Rotkreuzdelegierten, fliegt auf die Insel, besucht die Gefangenen und telegrafiert eine Liste nach Genf mit der Mitteilung, dass es den Deutschen gut gehe. Als der herbeigeeilte Konsul Krauel das Telegramm in die Hand kriegt, strahlt er: «Bravo für das Rote Kreuz … und für Ihr Land.»


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 03.12.2023

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