45. Harus! Aus «Politiker wider Willen»

Der Ruf nach Erneuerung hat weite Volkskreise erfasst. Die Machtlosigkeit von Bundesrat und Parlament gegenüber der sich verschärfenden Wirtschaftskrise führt dazu, dass «eine starke Welle der Bewegung durch das Schweizerland» geht. Der Zuger Journalist, Regierungsrat und Ständerat Philipp Etter – kommender Mann in der Katholisch-Konservativen Partei – fragt sich, was man «von den wie Pilze aus dem Boden schiessenden» sogenannten neuen «Fronten» halten soll. Etter lobt die positive Seite der Erneuerungsbewegungen: «Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass ein frischer, neuer Zug durch die Schweizerjugend weht.»

Etter sieht aber auch, dass die Bewegungen durch die Entwicklungen in Deutschland «mächtigen Auftrieb» erhalten haben: Wir wissen ja aus der Geschichte, wie stark geistige und politische Bewegungen und Umwälzungen in unseren Nachbarstaaten immer Wellen auch hereinschlugen in unser Land.

Man dürfe jedoch das Aufkommen der Fronten nicht nur als Reaktion auf die ausländischen Ereignisse werten. Die Bewegung läge in der Schweiz schon seit vielleicht zehn Jahren in der Luft. Die katholische akademische Jugend interessiere sich «für den Neuaufbau der Gesellschaft auf dem Boden der von grossen Päpsten der letzten Jahrzehnte vorgezeichneten Gesellschaftsreform». Die protestantische jungakademische Bewegung wende sich ebenfalls von den geistigen Grundlagen des Liberalismus ab.

Auch ein anderer späterer Bundesrat, der BGB-Politiker und Chefredaktor des Parteiblatts Neue Berner Zeitung, Markus Feldmann, nimmt im Frühjahr 1933 in einer Artikelserie die Fronten unter die Lupe. Positiv beurteilt er den «bewussten Appell an das nationale Empfinden, an das Heimatgefühl», negativ die Neigung zur Kopierung ausländischer Vorbilder. Für Feldmann sind die Aussichten, dass «faschistische oder nationalsozialistische Strömungen nach italienischem oder deutschem Muster in der Schweiz irgendwie zum Erfolg führen, aus inneren und äussern Gründen begrenzt».

Bedeutend misstrauischer beobachtet man die Fronten im linken Lager. Robert Grimm, wie immer ein wacher Beobachter neuer Entwicklungen, analysiert ihr Entstehen:

Träger der Frontenbewegung sind Studenten, angeekelt durch die mit der kapitalistischen Entwicklung verbundene Materialisierung der Politik, Intellektuelle, verbittert durch die aus gleichen Gründen entstandene Verflachung des geistigen Lebens, Jungbauern, angewidert durch die offizielle Politik der Bauernparteien.

Die Anhänger der Frontenpolitik rekrutierten sich vorab aus dem Mittelstand wegen der «Bedrohung der kleinen, scheinbar selbstständigen Existenzen durch die Auswirkungen, der Grossbetriebe, des Grosskapitals und seiner Finanzherrschaft». Ursprünglich, so Grimm, seien die Fronten Diskussionsklubs gewesen, die keine Rolle spielten. Die Wirtschaftskrise und die faschistischen Staatsumwälzungen hätten ihnen neuen Auftrieb gegeben:

Zu den Anhängern der Fronten gehören gescheiterte Existenzen, gesellschaftlich Entwurzelte, die im Untertauchen in die neue Bewegung ihrem Leben eine Wendung zu geben hoffen.

Anzubieten hätten die Fronten Phrasen, Demagogie und Versprechungen, mit denen man – siehe Hitler – auch zur Macht gelangen könne. Die Arbeiterschaft, erklärt Grimm, müsse dem Volk mutig und entschlossen die haltlosen, unsozialen Forderungen der Frontisten darlegen und ebenso mutig und entschlossen die eigenen gesellschaftlichen Ziele aufzeigen.

Die Fronten haben verschiedene Ziele. Sie wollen den Klassenkampf durch einen nationalen Schulterschluss überwinden. Der freie Markt soll von einer korporativen Ordnung, die parlamentarischen Demokratie vom autoritären Führerstaat ersetzt werden. Die Fronten sind antimarxistisch und antiliberal, zumeist stark antisemitisch.

Am ehesten ernst zu nehmen sind die Nationale Front und die Neue Front, die sich im April 1933 zu einem Kampfbund zusammenschliessen. Die elitäre Neue Front ist aus Diskussions- und Arbeitskreisen bürgerlicher Studenten an der Universität Zürich hervorgegangen. Führende Leute sind der Rechtsanwalt Robert Tobler und Hans Oehler, Schriftleiter der Schweizer Monatshefte für Politik und Kultur, beide aus «gutem Haus» stammende deutschfreundliche, rechts stehende Intellektuelle.

Die extremere, grobschlächtige und mitgliederstärkere Nationale Front unterstützt das nationalsozialistische Regime des «wahren Arbeiterführers Adolf Hitler» und fordert eine ähnliche Umgestaltung der Eidgenossenschaft. Ihr Chefideologe Alfred Zander, Redaktor des aggressiven Parteiorgans Eiserner Besen, will die modernen Landvögte, die «in Villen, Banken und Parteisekretariaten» sitzen, in einem revolutionären Aufbruch der schweizerischen Bauern- und Arbeiterschaft stürzen.

«Marschiert auf, national gesinnte Schweizer! Zeigt, dass ein neuer Wille durch unser Volk geht!» Auf Samstag, den 22. April 1933, lädt der «Kampfbund der Neuen und Nationalen Front» zum Vortrag «Ordnung im Staate» von Oberstdivisionär Emil Sonderegger ein. Blond gelockte, strammstehende Blauhemden sorgen für Ruhe und Ordnung unter den zuströmenden Schweizerbürgern. Der Kaufleuten-Saal zu Zürich ist überfüllt. Tausend Enttäuschte müssen draussen bleiben. Dr. Tobler teilt mit, dass der Kampfbund seine Schutzabteilungen nach altschweizerischem Vorbilde «Harst» nenne und nach alteidgenössischer Landknechtsmanier zum Gruss mit erhobener Hand den Kampfruf «Harus» gewählt habe.

Als der frühere Generalstabschef Sonderegger, elastisch, jovial lächelnd, den Saal betritt, schiessen die grauhemdigen Ärmel zum römischen Gruss empor. Die nicht uniformierte Versammlung bringt dem volkstümlichen Offizier eine stürmische Ovation dar. Man erinnert sich in Zürich, dass Sonderegger «in den kritischen Tagen des Novembers 1918 die damals schwach gewordene Zürcher Regierung energisch und mit Erfolg «in die Hosen gestellt» und damit Stadt und Land in schwerer Stunde vor höchster Gefahr bewahrt hat.

In seinem zweistündigen Vortrag ergeht sich der Redner, so die NZZ leicht süffisant, «in kulturpolitischen Betrachtungen, zu denen ihm Oswald Spenglers ’Untergang des Abendlandes’ die Grundlage geboten hat; die Quintessenz des von ihm vertretenen Vulgär-Spenglerismus bildet die Überzeugung von der Schädlichkeit der überalterten jüdischen Kultur für die jüngeren Völker». Aber die «alte Tante von der Falkenstrasse» sieht auch Positives: «Abgesehen von dieser ausgeprägt antisemitischen Note seines politischen Bekenntnisses, zeugte das, was er über die notwendigen Massnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung im bestehenden Staate sagte, durchaus für seine politische Einsicht.»

Zum Schluss schliesst Tobler stolz die Versammlung: «Heute hat eine neue Schweizergeschichte angefangen!» In den nächsten Wochen zieht Sonderegger mit seinem Vortrag durch die Lande und wird überall begeistert gefeiert: Olten, Zürich- Aussersihl, St. Gallen, Steffisburg, Bern.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Über Presse und Briefe erreicht die Kunde von den Frontenveranstaltung den als Lehrer auf einer ostfriesischen Insel tätigen Peter Dürrenmatt. Der spätere Nationalrat und Chefredaktor der Basler Nachrichten hat dort die Machtübernahme der Nazis miterlebt. Gottlosigkeit und Brutalität der Nazi-Methoden stossen ihn ab. Zu den Schweizer Fronten in der Schweiz schreibt er am 3. Mai 1933 seinem Vater, dem konservativen Berner Regierungsrat Hugo Dürrenmatt:

Das ist ja Fasnacht! Ich glaube niemals, dass das Schweizervolk sich mit ausgestreckten Händen und «Harus» begrüssen wird. Stelle ich mir dabei unsere Berner Bauern vor, so muss ich lachen. Was da in Zürich verzapft wurde, ist politisch vollkommener Blödsinn. Die Leute hören etwas von Faschisten und Nazis und Juden und machen einen Salat daraus, von dem es einem übel werden kann.

Wie die Katholiken, Bauern und Sozialisten müssen sich auch die Freisinnigen klar werden, wie sie sich gegenüber den Fronten verhalten sollen. In der Deutschschweiz, speziell in Zürich, liebäugeln sie mit einem Einbezug der Erneuerer in eine bürgerliche Wahlallianz. Die Waadtländer Radikalen wollen davon nichts wissen. Anlässlich einer Volkskundgebung der Association patriotique vaudoise im Lausanner Comptoir erklärt Nationalrat Vallotton, wieso die Fronten die Romands beunruhigen müssen:

Gewisse dieser Fronten germanischer Inspiration borgen von den Hitlerschen Phalangen Konzepte und Methoden, die mit unseren helvetischen Traditionen unvereinbar sind. Wir wollen kein Hakenkreuz auf unserem Boden: Das weisse Kreuz auf rotem Feld genügt uns.

Wie Vallotton begrüsst Bundesrat Marcel Pilet-Golaz zwar das «sich unter unseren Augen abspielende Aufwachen» des Volks. Wie Vallotton ist auch er misstrauisch:

Hüten wir uns jedenfalls vor Demagogie und einer Leidenschaft, die zur Gewalt führt, der Gewalt, die ihrerseits das Chaos erzeugt. In der Schweiz wollen wir keine Diktatur!

Kritisch wertet Pilet «gewisse Tendenzen» in unseren Nachbarstaaten:

Der vor zehn Jahren geborene Faschismus, der Italien umgewandelt hat, hat uns gleichgültig gelassen. Hingegen hat es genügt, dass jenseits des Rheins der Hitlerismus entsteht, dass man bei uns plötzlich aufwachte. Ist denn der Hitlerismus wirklich so weit weg vom Bolschewismus? Vergleicht und denkt darüber nach! Von Anfang an hat der Hitlerismus den Rassismus beinhaltet – was der Faschismus nie gesucht hat. Liegt darin nicht der Wunsch nach Herrschaft?


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 27.07.2025

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