44. Ein Schauprozess? Aus «Politiker wider Willen»

In Genf läuft der Prozess gegen Nicole und Mitangeklagte. Weil das Militär involviert war, findet er vor den Bundesassisen statt. Nicole ist der Anstiftung zum Aufruhr und der Aufforderung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Der wegen seiner Unparteilichkeit geachtete Tessiner Bundesrichter Agostino Soldati leitet die Verhandlungen. Die mehrstündigen Plädoyers des ausserordentlichen Bundesanwalts Sillig und des Verteidigers Dicker – Nicoles engstem politischem Bundesgenossen – stossen auf grosses Interesse. Sillig schliesst mit den Worten: 

Wenn wir unsere Demokratie verteidigen wollen, dann müssen wir die Leute verurteilen und bestrafen, die mutwillig Ruhe und Ordnung stören und Strassenschlachten anzetteln mit dem Ziele, den permanenten Bürgerkrieg und den Umsturz zu erreichen. Die Ereignisse vom 9. November waren für einen Mann wie Nicole nur eine Art Hauptprobe. Wenn wir ihn heute nicht verurteilen, sondern freisprechen, wird er seine kriminelle Tätigkeit umso fanatischer fortsetzen, und es wird zu immer neuen Unruhen und Blutbädern kommen.

Sillig beantragt Verurteilung des Angeklagten und zehn Monaten Gefängnis. Was er nicht beantragt, ist die Einstellung von Nicoles Bürgerrechten. Viele Bürgerliche können dies nicht verstehen.

Verteidiger Dicker plädiert für Freispruch:

Die Arbeiterklasse würde eine Verurteilung Nicoles nie begreifen können. Der einfache Mann auf der Strasse, der diesem Prozess nicht beiwohnen konnte, der alle die Finessen des Gerichtsprozesses nicht kennt, sagt sich und ich sage es auch: Es ist ungerecht, Nicole zu verurteilen, während die, die 13 Tote auf dem Gewissen haben, nicht einmal zur Rechenschaft gezogen werden. 

Am Schluss ermahnt Gerichtspräsident Soldati die Geschworenen:

Ihr seid nicht aufgerufen, eine grosse Affäre zu beurteilen, sondern einen bescheidenen Strafprozess. Im Verlauf der Verhandlungen hat man viel von Revolution geredet. Nun hat die Revolution mit diesem Prozess nichts zu tun. Sie, messieurs les jurés, haben die Frage zu beantworten: Gab es die Bildung eines Menschenauflaufs, um den Befehlen der kantonalen Behörden zu widerstehen?

Die Geschworenen erklären Nicole und drei Mitangeklagte schuldig, sprechen acht andere frei. Das Bundesgericht verurteilt Nicole zu sechs Monaten Gefängnis. Keine Einstellung der Bürgerrechte, was bedeutet, dass Nicole im Herbst für den Staatsrat kandidieren kann. Das Echo in der Presse ist geteilt. Le Travail:

Die Diebe der Banque de Genève laufen frei herum, demjenigen, der den Mut hatte, sie anzuprangern, sind sechs Monate Gefängnis aufgebrummt worden. Die Genfer Bankenbourgeoisie geniesst ihre Rache … Die Präsidentschaft der Assisen hat es gewagt, von einem Urteil der Beruhigung zu sprechen. Welcher Hohn!

Für den katholisch-konservativen Courrier de Genève ist die Strafe zu leicht. Mit dem Verzicht auf einen Entzug von Nicoles Bürgerrechten habe das Gericht sich geirrt und einen acte d’apaisement gemacht.

«Im Bundesrat herrscht Befriedigung über das Genfer Verdikt», notiert Justizminister Häberlin in seinem Tagebuch, fügt dann aber hinzu:

Sehr enttäuscht bin ich dann freilich, als ich mittags in den Pressenachrichten über die Sitzung der Kriminalkammer keinen Antrag Silligs auf Entzug der Ehrenrechte für Nicole finde.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Häberlin versteht nicht, dass Sillig Bundesanwalt Stämpfli mit keinem Wort darüber informierte, dass er den Antrag unterlassen werde, dies auch, nachdem er gehört hatte, «dass diese Haltung auf einem Techtelmechtel mit der Kriminalkammer beruhte».

Einige Tage nach der Urteilsverkündigung erhält Bundesrat Pilet-Golaz einen Brief aus Vevey: 

Lieber Freund, danke für dein Telegramm. Die Aufgabe war zweifellos hart, aber die Sympathie, von der ich umgeben war, hat mir sehr geholfen, sie zu erfüllen … Ich umarme dich. Vive la Cp. Mitr. Inf. I/3 [die Infanterie-Mitrailleur-Kompanie I/3]

Unterzeichnet «Sillig». Der ausserordentliche Bundesanwalt im Nicole-Prozess ist ein ehemaliger Berufskollege und Offizierskamerad von Pilet. Im Weltkrieg haben sie Hunderte von Tagen gemeinsam Dienst getan. Ganz am Anfang musste Pilet Sillig einmal einen Verweis erteilen, weil sich dieser unerlaubt «auf die Suche nach Süssigkeiten und Rahm» gemacht hatte. Zuerst schmollte Sillig, aber man versöhnte sich rasch und die beiden wurden gute Freunde.

Im Vorfeld des Nicole-Prozesses hatte die Bundesanwaltschaft lange vergeblich nach einem erfahrenen Richter oder Juraprofessor gesucht, um die Anklage zu vertreten. Pilet muss Sillig seinem Kollegen Häberlin empfohlen haben.

Im Brieflein an Pilet schreibt Sillig noch, dass er von «dieser ganzen Affäre einen Eindruck schrecklicher Trauer und grosser Freude» zurückbehalten habe. Trauer über die durch schmutzige Demagogie und Lügen irregeführten Geister, Freude über «das nationale Erwachen unserer Jugend».

Die «Fronten» mögen taktische politische Fehler begehen, aber sie sind trotzdem der Ausdruck eines grossen Patriotismus, der mein Herz erbeben lässt. Ich wünsche Dir guten Mut, um eine Pflicht zu erfüllen, die weit schwerer ist, als diejenige, die ich erfüllt habe. Möge Gott wollen, dass Du lange an Deinem Posten bleibst und dass Du eines Tages der Erneuerung unseres lieben Landes vorstehst.

Der von den Bürgerlichen angefeindete Bratschi schreibt vom «schwersten Kampf, den die schweizerischen Eisenbahner bis anhin auszufechten hatten». Er spricht vom Abbauwahn der «politisch und wirtschaftlich Mächtigen»:

Die Behauptung, das Bundespersonal sei privilegiert, ist geradezu eine Gemeinheit; ist aber auch das denkbar schlechteste Zeugnis für die heutige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Denn wenn ein regelmässiges Einkommen ein Privileg bedeutet in einer Gesellschaft, dann ist diese nicht mehr wert, als dass sie verschwinde. Das Normale wäre nach Meinung der Gegner, dass der Mensch Hunger leiden, sich nicht kleiden und aufs Primitivste wohnen solle.

Zwei Tage vor der Abstimmung erhält Pilet überraschend den Brief eines alten Schulfreunds, des Lausanner Fotografen Gaston de Jongh, der ihm «das kleine Postskriptum eines Briefs» sendet, «den ich von meinem wackeren Freund, dem Dr. Hausamann aus St. Gallen, erhalten habe». Hausamann, Sekretär des schweizerischen Photographenverbands, hatte Pilet-Golaz in St. Gallen reden gehört und war beeindruckt.

Sein Vortrag war inhaltlich ausgezeichnet, rhetorisch eine Glanzleistung und ich bin überzeugt, dass er bei dem sehr zahlreich erschienenen Publikum einen durchschlagenden Erfolg gehabt hat. Er sprach französisch, aber so klar und straff, dass ihn jedermann mühelos verstehen konnte. Im kleinen Kreis zeigte er sich frei von jeder Pose, als geistreicher Causeur und es war wirklich sehr wertvoll, ihn kennenzulernen, und ich kann nicht anders als Ihnen zu diesem Landsmann bestens zu gratulieren.

Zehn Jahre später wird derselbe Hausammann, mittlerweile Hauptmann Hausamann, mit einer raffinierten Intrige versuchen, Aussenminister Pilet-Golaz zu stürzen.

Am 28. Mai 1933 lehnt das Schweizervolk mit 505 190 Nein zu 411 536 Ja und mit 13 zu 9 Ständestimmen den Lohnabbau – die Lex Musy – eindeutig ab. Für Pilet bleibt der Trost, dass seine Waadt angenommen hat. Die Linke kann sich über ihren Sieg gegen eine mächtige Koalition von Arbeitgeberorganisationen, bürgerlichen Parteien und Bundesrat freuen. Die Tagwacht fordert Bundesrat Musy auf, zu gehen. Bratschi zu dem in der Woche nach dem Sieg stattfindenden Eisenbahnerkongress: «Die Solidarität der Privatarbeiterschaft mit dem eidgenössischen Personal hat standgehalten auch im schlimmsten Trommelfeuer der Gegenpropaganda.» Die Deflationspolitik müsse jetzt aufhören, das Volk habe sie abgelehnt.

Musy geht nicht. Die Deflationspolitik hört nicht auf. Bereits am 31. Mai stimmt der Bundesrat einem von Musy entworfenen umfassenden Finanzprogramm zu. Es will eine Erhöhung der Stempel-, Tabak- und Alkoholsteuern, Einführung einer allgemeinen Getränkesteuer, eine ausserordentliche, vorübergehende Besteuerung hoher Einkommen, aber auch Herabsetzung der Subventionen und der Gehälter des Bundespersonals. Wie Pilet in seiner St. Galler Rede gesagt hat: «Die Macht der Verhältnisse wird den Lohnabbau diktieren.»


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 20.07.2025

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