43. Liberalismus gegen Etatismus Aus «Politiker wider Willen»
1933 ist Pilet mit Projekten zur Sanierung und Reorganisation der defizitären SBB beschäftigt. Er geht sorgfältig zu Werke, konsultiert weite Kreise, lässt Abklärungen durch Betriebswirtschafter und Juristen machen. Nichts überstürzen ist seine Devise.
Zudem hält der Eisenbahnminister zahlreiche Referate. Am 20. Mai feiert die Union des voyageurs de commerce de la Suisse romande in Genf ihren 50. Geburtstag und Pilet gratuliert: «Sind die Handelsreisenden im weiteren und vollen Sinne des Wortes nicht inbrünstige Konservative, Traditionalisten von Berufs wegen, citoyens, die die Stabilität lieben?» 1907 hat der verehrte Genfer Alt-Bundesrat Adrien Lachenal den 25. Jahrestag des Vereins präsidiert. «Welch Unterschied zwischen 1907 und heute!», konstatiert Pilet:
Damals eine Epoche des Wohlstands und des Glücks, gekennzeichnet durch den Aufschwung von Handel und Industrie, durch eine liberale Zollpolitik, durch den geheiligten Charakter rechtsverbindlicher Beziehungen, durch eine lange Periode des Friedens in Europa, die es reich gemacht hat.
1933 hingegen: Rückgang des Geschäftslebens, politische und wirtschaftliche Instabilität. Pilet spricht vom Verkehrswesen, das am Boden liegt, und vom Handel, der stirbt, «erwürgt vom Etatismus, Nationalismus und Protektionismus». Der heutige Wirtschaftskrieg ist gemäss Pilet «arglistiger und verheerender als der militärische Krieg».
Drei Prinzipien sind für den Redner die Grundlage einer wirtschaftlichen und sozialen Renaissance: erstens die Freiheit, Voraussetzung von Handel und Verkehr, zweitens das Vertrauen, Basis aller Beziehungen, drittens die Ehrlichkeit, die Mutter des Vertrauens, das in der Respektierung des gegebenen Wortes liegt.
Ist es Zufall oder Absicht, dass Pilet seine liberale Überzeugung in Genf verkündet, wo der Liberalismus von links und rechts – von Léons Anhängern und von Géos Anhängern – wild bekämpft wird. Und wo der im Moment laufende Prozess gegen «Nicole und Konsorten» praktisch das einzige Gesprächsthema ist.
Die sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Genfer Ereignisse haben zu einer neuen Polarisierung zwischen Bürgerblock und Linken geführt. Im Bundesrat gibt Musy, der die öffentliche Meinung hinter sich weiss, den Ton an. Das nach ihm benannte Gesetz über den Lohnabbau beim Bundespersonal, über die das Volk am 28. Mai abstimmen muss, dominiert in den ersten Monaten des Jahres 1933 die öffentliche Debatte. Sie wird mit seltener Leidenschaft geführt.
Für den Verband des Personals öffentlicher Dienste VPOD geht es «um Sein oder Nichtsein einer freiheitlich regierten Schweiz».
Man muss an diesem Tag nicht nur jene Finanzpolitik schlagen, die das Volk in das Verderben der Deflation führt; sondern jenen der Demokratie feindlichen und gefährlichen Geist, der sich ankündet. Mit der Ablehnung des Lohnabbaus stehen wir für die Demokratie.
Auf Seiten der Befürworter sieht sich die NZZ ebenfalls als Verteidigerin der Demokratie:
Es gilt heute nicht allein den Staat, sondern auch seine beamteten Diener vor der Diktatur der Sekretäre zu schützen. Der Terror eines jede freie Meinung knebelnden Syndikalismus muss am 28. Mai gebrochen werden, oder soll Herr Bratschi die Schweiz regieren?
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Der von den Bürgerlichen angefeindete Bratschi schreibt vom «schwersten Kampf, den die schweizerischen Eisenbahner bis anhin auszufechten hatten». Er spricht vom Abbauwahn der «politisch und wirtschaftlich Mächtigen»:
Die Behauptung, das Bundespersonal sei privilegiert, ist geradezu eine Gemeinheit; ist aber auch das denkbar schlechteste Zeugnis für die heutige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Denn wenn ein regelmässiges Einkommen ein Privileg bedeutet in einer Gesellschaft, dann ist diese nicht mehr wert, als dass sie verschwinde. Das Normale wäre nach Meinung der Gegner, dass der Mensch Hunger leiden, sich nicht kleiden und aufs Primitivste wohnen solle.
Zwei Tage vor der Abstimmung erhält Pilet überraschend den Brief eines alten Schulfreunds, des Lausanner Fotografen Gaston de Jongh, der ihm «das kleine Postskriptum eines Briefs» sendet, «den ich von meinem wackeren Freund, dem Dr. Hausamann aus St. Gallen, erhalten habe». Hausamann, Sekretär des schweizerischen Photographenverbands, hatte Pilet-Golaz in St. Gallen reden gehört und war beeindruckt.
Sein Vortrag war inhaltlich ausgezeichnet, rhetorisch eine Glanzleistung und ich bin überzeugt, dass er bei dem sehr zahlreich erschienenen Publikum einen durchschlagenden Erfolg gehabt hat. Er sprach französisch, aber so klar und straff, dass ihn jedermann mühelos verstehen konnte. Im kleinen Kreis zeigte er sich frei von jeder Pose, als geistreicher Causeur und es war wirklich sehr wertvoll, ihn kennenzulernen, und ich kann nicht anders als Ihnen zu diesem Landsmann bestens zu gratulieren.
Zehn Jahre später wird derselbe Hausammann, mittlerweile Hauptmann Hausamann, mit einer raffinierten Intrige versuchen, Aussenminister Pilet-Golaz zu stürzen.
Am 28. Mai 1933 lehnt das Schweizervolk mit 505 190 Nein zu 411 536 Ja und mit 13 zu 9 Ständestimmen den Lohnabbau – die Lex Musy – eindeutig ab. Für Pilet bleibt der Trost, dass seine Waadt angenommen hat. Die Linke kann sich über ihren Sieg gegen eine mächtige Koalition von Arbeitgeberorganisationen, bürgerlichen Parteien und Bundesrat freuen. Die Tagwacht fordert Bundesrat Musy auf, zu gehen. Bratschi zu dem in der Woche nach dem Sieg stattfindenden Eisenbahnerkongress: «Die Solidarität der Privatarbeiterschaft mit dem eidgenössischen Personal hat standgehalten auch im schlimmsten Trommelfeuer der Gegenpropaganda.» Die Deflationspolitik müsse jetzt aufhören, das Volk habe sie abgelehnt.
Musy geht nicht. Die Deflationspolitik hört nicht auf. Bereits am 31. Mai stimmt der Bundesrat einem von Musy entworfenen umfassenden Finanzprogramm zu. Es will eine Erhöhung der Stempel-, Tabak- und Alkoholsteuern, Einführung einer allgemeinen Getränkesteuer, eine ausserordentliche, vorübergehende Besteuerung hoher Einkommen, aber auch Herabsetzung der Subventionen und der Gehälter des Bundespersonals. Wie Pilet in seiner St. Galler Rede gesagt hat: «Die Macht der Verhältnisse wird den Lohnabbau diktieren.»
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany