40. Pilet-Cervelat Aus «Politiker wider Willen»

Henry Vallotton und Marcel Pilet-Golaz gewinnen im Jahr 1932 beide an politischer Statur.

Vallotton wird vom Bundesrat zum schweizerischen Vertreter in der Luftfahrtkommission der im Februar eröffneten Genfer Abrüstungskonferenz bestimmt. Die von über 4000 Personen aus 64 Staaten besuchte Konferenz soll das Rüstungsniveau ihrer Teilnehmer «in dem höchsten, mit der jeweiligen nationalen Sicherheit vereinbaren Masse», zurückzufahren und damit den Weltfrieden auf alle Zeit hin sichern. Vallotton sieht für seine Luftfahrtkommission zwei Hauptziele: erstens einen Luftangriff überhaupt zu erschweren und zweitens Frauen, Kinder und Greise vor Bomben zu schützen. Es braucht ein Verbot des Bombenkrieges, des chemischen Kriegs und der bakteriologischen Waffen.

Als der Präsident der Kommission, der bedeutende spanische Diplomat, Schriftsteller und Historiker Salvador de Madariaga, unerwartet zurücktritt, wählen die Delegierten den Schweizer zu seinem Nachfolger. Die langwierigen Genfer Verhandlungen werden im Oktober 1933 schliesslich scheitern, als Hitler die deutsche Mitgliedschaft im Völkerbund aufkündigt. Immerhin hat Vallotton wertvolle Erfahrungen auf dem internationalen Parkett sammeln können.

In Bern widmet sich Pilet der sich von Monat zu Monat verschlechternden Finanzlage der SBB. Die Krise, die nun auch die Schweiz voll erfasst hat, lässt die Einnahmen schwinden, während die Kosten trotz Sparbemühungen kaum gesenkt werden. Der Bundesrat sieht als einzige Lösung einen Lohnabbau, der auf Beginn 1933 in Kraft treten soll.

m April stimmen alle sieben Bundesräte einem von Finanzminister Musy vorgeschlagenen Programm zu, das eine Senkung der Personallöhne um 10 Prozent vorsieht. Um ein Referendum zu verhindern, schlägt Schulthess einen befristeten dringlichen Bundesbeschluss vor. Minger pflichtet ihm bei, aber Musy, Motta und Pilet sind dagegen: Musy, weil er keine Angst vor einem Referendum hat, Motta, weil man dem Personal einen Volksentscheid versprochen hat, Pilet, weil er glaubt, dass sich die vom Lohnabbau betroffenen Bundesbeamten nur dem Volkswillen beugen würden.

Die Gewerkschaftsvertreter lehnen die Vorschläge des Bundesrats rundweg ab. Für Robert Bratschi, Präsident des Föderativverbands und der Eisenbahnergewerkschaft, würde der Lohnabbau bei einem Grossteil der Bevölkerung zu einem Kaufkraftverlust führen und die Krise verschlimmern. Er fordert Arbeitsbeschaffung durch die öffentliche Hand, eine Krisensteuer, ausreichende Arbeitslosenunterstützung und die Reduktion der Arbeitszeit.

Über Pfingsten verbringen Marcel und Tillon Pilet-Golaz einige Ferientage auf Cap Ferrat an der Côte d’Azur. Pilet schickt seinem cher fils eine Ansichtskarte:

Habt ihr für euer Lager leidliches Wetter? Bist du zufrieden heimgekehrt? Ist Grossmama geblieben und sind die Lausanner gekommen? Fragen, auf die du uns nach unserer Rückkehr antworten wirst. Tendrement La Pape. 

Später erhält Jacques von der Mutter eine Ansichtskarte:

Mon grand fils, einer der Reize dieser Halbinsel sind einerseits die Pinienwälder und die üppigen Gärten: Alles blüht dort: Rosen, Jasmine, Zyklamen, Löwenmäulchen und tausend Arten, die unter unserem rauen Klima nicht wachsen. Jeden Tag strahlender Sonnenschein und wir hoffen, dass alles für euch so gut geht wie hier.

Kein strahlender Sonnenschein, sondern düstere Wolken und Regengüsse begleiten Anfang Juni die eindrucksvollen Feiern zum 50. Jahrestag des Gotthard-Durchstichs. Ein Denkmal zur Erinnerung an die bei den Tunnelarbeiten Umgekommenen wird eingeweiht, graubärtige überlebende Ingenieure und Arbeiter, die am Jahrhundertwerk beteiligt waren, werden geehrt. Es wird gegessen, getrunken, gesungen und geredet. Zusammen mit Bundespräsident Motta, Kollege Häberlin, einem italienischen Regierungsmitglied, Generaldirektor Schrafl und der ganzen SBB-Führung nimmt auch Eisenbahnminister Pilet an den imposanten Feierlichkeiten in Luzern, Göschenen, Airolo und Lugano teil.

Pilet schickt einem alten Lausanner Freund eine Karte, die an das Jubiläum erinnert. Der Adressat, Staatsrat Henri Simon, entschuldigt sich mit einem handgeschriebenen Dankesbrief, dass er mit einiger Verspätung – es war bloss eine Woche – antworte, weil es ihm am Tag, als er die Karte erhielt, nicht sehr gut ging:

Mein lieber Bundesrat und Freund,

es ist mir nicht möglich, die Worte zu finden, um auf genügende Weise die Freude auszudrücken, die mir die liebenswürdige und rührende Aufmerksamkeit gemacht hat, deren Urheber du bist, und an der sich die Herren Motta und Häberlin sowie der Vertreter der italienischen Regierung beteiligt haben. Ich war glücklich über den perfekten Erfolg dieser Gedenkfeiern. Sie waren übrigens in den schwierigen Zeiten, die wir durchmachen, notwendig, wäre es auch nur, um daran zu erinnern, dass die Zeit des Wohlstands, die unsere Vorgänger gesehen haben, wieder kommen können und müssen. Ich denke fast ständig an die ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen die Regierung unseres Landes sich auseinandersetzen muss, Schwierigkeiten, die man in gewissen Kreisen unseres Volkes nicht verstehen will oder kann.

Der von Freunden und Gegnern geschätzte Staatsrat Simon leidet an einer unheilbaren Krankheit. Keine drei Wochen später ist er tot.

Ende Juni erhält Marcel Pilet-Golaz noch einen anderen persönlichen Brief, den er aufbewahren wird:

Monsieur le conseiller fédéral, sehr gerührt von Ihrem liebenswürdigen Telegramm, danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Unter den erhaltenen Botschaften betrachte ich es als ein glückliches Omen für die Zukunft. Wenn ich die Ehre zu schätzen weiss, die mir der Bundesrat erwies, indem er mich an die Spitze des 2. Armeekorps berufen hat, geschieht dies jedoch nicht ohne lebhaftes Bedauern, dass ich die 1. Division schon jetzt verlasse, die ich zutiefst lieb gewonnen habe und die sich so sehr eingesetzt hat. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass mir eines Tages das Kommando des 1. Armeekorps zufallen wird, wie mir der Vorsteher des Militärdepartments zu verstehen gegeben hat.

Gezeichnet mit dem Stempel «Der Kommandant der 1. Division» und der Unterschrift Guisan. Zweifellos ist der kontaktfreudige und ehrgeizige Milizoffizier Henri Guisan darüber im Bild, dass sein Waadtländer Bundesrat mit dem für militärische Ernennungen zuständigen Minger gut steht. Sein Wunsch auf Übernahme des westschweizerischen 1. Armeekorsps wird schon sehr bald in Erfüllung gehen. Im Juni gibt der ungeliebte Sarasin aus Gesundheitsgründen seinen Rücktritt. Er wird schon sechs Monate später sterben.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

In der Junisession werden die verschiedensten Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht. So verlangt der populäre Stadtpräsident des «roten Biel», der Sozialist Guido Müller, selber ehemaliger Eisenbahnangestellter, die sofortige Elektrifizierung der kohlebetriebenen Bahnen im Berner Jura. Pilet weist darauf hin, dass das Defizit der SBB, das 1931 noch 10 Millionen betrug, wahrscheinlich 1932 auf 40 Millionen ansteigen werde. Es werden schliesslich 49 Millionen sein.

Woher das Geld nehmen? Die Elektrifizierung der Strecken erfordert lange Vorbereitung, technische Studien, zu deren Ausarbeitung es keine Arbeitslosen braucht. Das Geld würde vor allem für Material verwendet und nicht für Löhne. Neue Lokomotiven zu bauen, ergibt laut Pilet auch keinen Sinn. Für unseren gegenwärtigen Verkehr haben wir genügend elektrische Lokomotiven. Die SBB hätten getan, was sie könnten, um Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen. Müller zieht sein Postulat zurück.

In seinen Erinnerungen wird Guido Müller schreiben:

Unstreitig der glänzendste Redner der Versammlung war Marcel Pilet-Golaz, wogegen die wuchtige Beredsamkeit Robert Grimms sich nicht von gleicher Durchschlagskraft erwies wie in Volksversammlungen. Robert Bratschi vertrat sachkundig und beredt, nicht immer ohne Weitschweifigkeit, die Belange der Arbeiterschaft.

Das Besoldungsgesetz – Lohnabbau 10 Prozent – kommt in der Herbstsession zur Sprache. Der Post gehe es gut, sagt Pilet, aber die Situation bei den Bundesbahnen sei schwerwiegend. Da die Personalkosten fast 70 Prozent aller Auslagen ausmachen, müsse man vom Personal Opfer verlangen, die tragbar seien, weil die Lebenskosten zurückgegangen sind. Die Schweiz zahle ihre Eisenbahner besser als Deutschland, Holland, Norwegen und Schweden. Im Vergleich zum Ausland, so Pilet weiter, seien die Abbauvorschläge des Bundesrats bescheiden:

Wir wollen nicht in die Lage kommen, das Personal nicht mehr bezahlen zu können. Dann könnte uns wirklich ein Vorwurf gemacht werden. Darum tun wir heute unsere Pflicht, tun Sie die ihre!

Als es um die Herabsetzung einiger Zulagen geht – darunter der Mahlzeitenvergütung für Eisenbahner, die auswärts essen müssen –, sagt Pilet:

Für den Preis von Fr. 1.70 oder Fr. 1.80 können Sie in den Buffets unserer Bahnhöfe normale Mahlzeiten haben. Gewiss, man wird Ihnen keine Ortolane servieren, aber ein Fleisch, ein Gemüse, plus etwas, um den Durst zu löschen, und ein kleines Dessert. Was wollen Sie mehr?

Unter den Deutschschweizern hat wohl kaum einer eine Ahnung, was ein Ortolan ist, ein winziger Singvogel, der als Delikatesse gilt. Ihr Genuss blieb früher Königen vorbehalten. (Im Januar 1996 wird der auf dem Sterbebett liegende französische Staatspräsident Mitterrand eine ganze Reihe der mittlerweile geschützten raren Vögel verschlingen.)

Manch ein Nationalrat wird über diese süffisante Bemerkung den Kopf geschüttelt haben. Vorausgesetzt, sie haben zugehört.

Gemäss Georges Perrin, der als Berner Korrespondent der Revue Pilets Arbeit von 1930 bis 1944 aus nächster Nähe beobachten konnte, ging Pilets spätere Unbeliebtheit auf diese Debatten über den Lohnabbau zurück. Perrin erzählt, in einem Interview 1970, von einer andern «unglücklichen Äusserung» Pilets:

Die Eisenbahner geniessen in den Bahnhofbuffets oder auch in den eigens in den grossen Werkstätten für sie eingerichteten Kantinen besondere Vergünstigungen und ein Eisenbahner kann sich von einem Cervelat-Salat ernähren, der 60 Rappen kostet.

Pilet hätte dies nicht so sagen dürfen, meinte Perrin. Die Linkspresse habe sich auf ihn gestürzt: «Monsieur Pilet-Golaz verurteilt die Eisenbahner dazu, sich von Cervelat- Salat zu ernähren.» Von daher rühre sein Spitzname «Pilet-Cervelat» Deutschschweizer Gegner nennen ihn auch einfach «Wurstsalat». Im bürgerlichen Lager ist man sich über das Ausmass des Lohnabbaus nicht einig. Nach langwierigen Verhandlungen hinter den Kulissen einigen sich Bundesrat und Bürgerliche auf 7½ Prozent. In der Schlussabstimmung vom 15. Dezember 1932 dringt das Gesetz im Nationalrat mit 77:57 und im Ständerat mit 29:0 durch. Musy freut sich auf ein Referendum: «In einer Demokratie befiehlt das Volk; es sind nicht die Personalorganisationen, nicht das Parlament, nicht der Bundesrat, welche die Souveränität innerhaben. Folglich warten wir auf das Urteil des Volks.» Sein Kollege Pilet-Golaz teilt diese Auffassung.

Der von Bratschi geführte Föderativverband ergreift das Referendum. In kurzer Zeit wird eine Rekordzahl von etwa 325 000 Unterschriften gesammelt.

«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 22.06.2025

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