37. Kampf um die AHV Aus «Politiker wider Willen»

Ein am 6. Dezember 1925 von Volk und Ständen 1925 angenommener Verfassungsartikel verpflichtet den Bund, eine Alters- und Hinterlassenenversicherung einzuführen. Offen blieben damals die Art der Finanzierung und die Frage, ob die Versicherung für alle obligatorisch sein solle. 

Zuständig für das Ausführungsgesetz ist Volkswirtschaftsminister Edmund Schulthess, der in der AHV ein Werk sieht, «das den breiten Massen des Volkes nach einem Leben voller Arbeit Sicherheit gegen Not und Elend bietet». Die Vorlage, die im Sommer 1931 vor die Räte kommt, sieht für die Finanzierung ein Umlageverfahren vor, zudem das Obligatorium, öffentliche Kassen, Einheitsprämien und bescheidene Einheitsrenten ab dem 66. Altersjahr. Im Juni stimmt der Nationalrat dem «Projekt Schulthess» mit 163 zu 12 Stimmen zu. Mit 30 zu 5 Stimmen sagt auch der Ständerat ja. Offenbar trügt das Ergebnis. Chefredaktor Georges Rigassi behauptet in der Gazette, das klare Resultat sei «keineswegs ein Indikator für die Volksgefühle». Das Referendum wird ergriffen.

Der November 1931 steht im Zeichen des AHV-Abstimmungswahlkampfs. Im Bundesrat beginnt man am Erfolg zu zweifeln. Schulthess eilt von Veranstaltung zu Veranstaltung, hält schwungvolle Reden und imponiert den anspruchsvollen Welschen mit seinem ausgezeichneten Französisch. Auch Motta, Häberlin, Minger und Pilet legen sich ins Zeug. Meyer als Exponent des skeptischen Zürcher Freisinns eine Spur weniger. Musy gar nicht. Wie schon beim Getreidemonopol schert der Freiburger aus. Obwohl er im Bundesratskollegium keinen offenen Widerstand gegen die Vorlage geleistet hat, zieht er für die Gegner die Fäden.

In der welschen Schweiz sieht man im «unföderalistischen» AHV-Gesetz einen Schritt auf dem Weg zum Staatssozialismus. Der von Musy angestachelte rechte Flügel der Katholisch-Konservativen und die meisten Liberalen bekämpfen die Vorlage. In vorderster Front der Gegenseite stehen katholische Geistliche und die liberalen Blätter Gazette de Lausanne und Journal de Genève. Einflussreiche welsche Journalisten, die gewöhnlich Pilet gut gesinnt sind – Grellet, Payot, Rigassi, Savary und Béguin –, setzen sich für das Nein ein.

An einem ausserordentlichen Kongress der Waadtländer Radikalen verteidigt Pilet das AHV-Gesetz.

Die Krise ist hier. Sie hat sich in unserem Land eingenistet. Sie ist über unsere Nord- und Ostgrenzen eingedrungen. Sie hat in Amerika und England angefangen und sich dann breit und tief verteilt. Sie wird uns erschüttern. Machen wir uns in dieser Beziehung keine Illusionen, aber lassen wir uns nicht kleinkriegen … Die Krise, sei sie nun wirtschaftlich, politisch oder moralisch, ist fast so alt wie die Welt selbst. So alt wie die biblische Geschichte, in der die menschlichen Erfahrungen zusammengefasst sind und die uns lehrt, dass nach den fetten Jahren die mageren kommen; sie lehrt uns aber auch, dass nach den mageren Jahren wieder die fetten kommen.

Die Krise, fährt Pilet fort, kann überwunden werden. Die einfachen, aber nicht leichten Mittel dazu liegen nicht in «Vorschriften, Organisationen, Mechanisierungen und Überlagerungen», sondern erst einmal in der Arbeit und im Sparen. Dies heisse nicht, auf alle Ausgaben verzichten, nur auf die überflüssigen. Nützliche Aufgaben gibt es immer noch, wie eben die Altersversicherung. Dabei gehe es um mehr als ein Prinzip, es gehe um «die Zivilisation, auf die wir stolz sind».

Glauben wir, dass die Zivilisation aus Lokomotiven, Autos, Flugzeugen und Radios, aus Gas und chemischen Produkten besteht? Vielleicht. Glauben wir, dass alle diese technischen Errungenschaften genügen, um zivilisiert zu sein, dass der Starke weiter den Schwachen ausbeutet, dass der reife, gemachte Mann sich nicht ums Kind und den Greis kümmern soll? Soll das die Zivilisation sein? Das wäre eher Barbarei, eine glänzende Barbarei, aber grausamer und zynischer als die primitive Barbarei.

Nein, die Zivilisation, und Ihr wisst dies so gut wie ich, liegt ganz im geistigen Bereich, im moralischen Fortschritt. Die Zivilisation ist die Grundlage zu allem. Sie ist die Achtung vor dem Recht, sie ist die Sorge um die Gerechtigkeit, sie ist die Solidarität. Die Zivilisation ist die Unterstützung, die der Starke dem Schwachen gibt und die Dankbarkeit des Schwachen gegenüber dem Starken; die Zivilisation ist der kluge Mensch, der das Menschlein, das auf die Welt kommt, fürsorglich empfängt und den Menschen, der die Welt verlässt, zärtlich begleitet.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Pilet predigt nicht nur, er argumentiert auch als gewandter Jurist. Vom föderalistischen Standpunkt aus «der uns allen so sehr am Herzen liegt», gebe es nichts zu bemängeln. Die Kantone kassieren die Prämien ein, die Kantone bestimmen die Höhe der Renten, alle Details werden von den Kantonen geregelt. Das Gesetz bringt keine neuen Beamten, keine fernen Büros, keine Beschwerdegänge nach Bern. «Alles spielt sich im Kanton und in der Gemeinde ab, mit Leuten, die man kennt.» Zum Schluss sagt Pilet, er sei sicher, dass das Schweizervolk mit bon sens handeln und ja stimmen werde.

Je näher es dem Abstimmungstag zugeht, desto unsicherer scheint der Ausgang. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und die rückläufigen Steuer- und Zolleinnahmen lassen Zweifel aufkommen, ob das Sozialwerk sich überhaupt finanzieren lässt. Angesichts rapid steigender Arbeitslosigkeit haben die Leute andere Sorgen, als ans Alter zu denken.

Dann platzt ein politisches Bömbchen. Vier Tage vor der Abstimmung kündigt Musy einen bevorstehenden Lohnabbau beim Bundespersonal an. Eine der Extratouren des Freiburgers, im Widerspruch zum ausdrücklichen Bundesratsbeschluss. Die Kollegen sind empört. Häberlin stellt Musy telefonisch zur Rede. In der Bundesbahnkommission distanziert sich Pilet vom Freiburger. Am vierten Dezember notiert Häberlin:

In der Bundesratssitzung geht es zahm zu und her. Musy hat sich nämlich vorher entschuldigt … Dann sagt er noch, er hätte Auftrag gegeben, den Absatz über Lohnabbruch wegzulassen, was durch ein Versehen unterblieben sei. Das glaube nun, wer wolle.

Zwei Tage später folgt für sechs der sieben Bundesräte die Ernüchterung. Das Abstimmungsergebnis am Sonntagabend ist – in Häberlins Worten – «ganz bös». 511 656 Nein gegen 493 565 Ja. Die Waadt verwirft wuchtig im Verhältnis drei zu eins bei einer Stimmbeteiligung von 89 Prozent. Eine schmerzhafte Niederlage für ihre staatstragende Radikale Partei und deren Bundesrat Pilet-Golaz.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 01.06.2025

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