36. Privates Aus «Politiker wider Willen»
Pilet neigt zu einer gewissen Hypochondrie und hält seine Gesundheit für fragil. Wie auch Tillon ist er oft erkältet und leidet an Magenverstimmungen. Jacques Pilet wird sich erinnern, dass sein Vater jeweils an Weihnachten bemerkte, dies könne seine letzte sein.
In seiner Sitzung vom 25. März 1931 entscheidet der Bundesrat, Witwen und Waisen zu unterstützten, deren Männer oder Väter in der Übergangszeit vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung sterben. Pilet denkt an die eigene Familie. Am darauffolgenden Sonntag macht er sein Testament. Für den Fall seines Ablebens hält er einige Punkte fest, die nichts mit der Verteilung seines Besitzes zu tun haben:
1. Wenn mein Sohn Jacques Vollweise ohne Vater und Mutter bleiben sollte, wünsche ich, dass mein Vater Edouard Pilet-Schenk in Lausanne als Vormund bezeichnet wird; bei seiner Verhinderung oder nach ihm mein alter und sehr lieber Freund, Louis Déverin, Professor an der Universität Lausanne.
2. Ich verlange nicht, eingeäschert zu werden, aber ich widersetze mich dem auch nicht. Die Umstände werden zweifellos den Entscheid bestimmen, den die Meinen in dieser Hinsicht treffen werden. Dagegen wünsche ich inständig, in waadtländischer Erde zu ruhen, wenn möglich in der Familiengruft, die im Bois de Vaux reserviert ist und für die mein Cousin Alexandre Pilet, Architekt, die Pläne vorbereitet. Ich hoffe, dass später, viel später, meine viel geliebte Frau dort zu mir stossen wird.
3. Ich bitte die Meinen und allenfalls meine Kollegen im Bundesrat – denen ich für ihre Freundschaft und das Vertrauen, das sie mir weiterhin bezeugen, dankbar bin, ganz besonders Monsieur Häberlin – bei meinem Ableben auf jede offizielle Trauerfeier zu verzichten. Ein Gottesdienst in kleinem Kreis, nichts mehr. Dieser Wunsch ist mir nicht von einem Gefühl der Verachtung eingegeben worden. Ich verachte die Menschen nicht, ich bedaure sie oft, ich bewundere viele unter ihnen. Aber es gibt viele, die, von Eitelkeit erfasst, aus Geltungsdrang, um, wie man in meinem Kanton sagt, sich «honneurs» zu sichern, aufgehört haben, aufrecht, ehrlich und mutig zu sein, das Volk zu führen und nicht ihm zu schmeicheln. Deshalb sehe ich mit Schrecken, was diesen abscheulichen Hang, Zeichen einer gefährlichen Schwäche, begünstigen kann. Ist nicht alles neben Gott Nichtigkeit?
4. Auf meinem Grab beschränke man sich auf folgende Aufschrift, ohne Titel und ohne Erwähnung irgendwelcher Ämter: Marcel Pilet-Golaz 1889 – 19..
5. Meine Frau soll wissen, dass sie das grosse Glück meines Lebens war und mein Sohn soll meiner strengen – vielleicht? –, aber tiefen Zuneigung versichert sein.
Pilet-Golaz
Der Herr Bundesrat hat Vaterpflichten. Jacques, knapp neun, hat seinen eigenen Kopf und muss gelegentlich zurechtgewiesen werden. Am 18. Juli schreibt der Papa seinem bei einer Mademoiselle Vuilleumier im Welschland in den Ferien weilenden cher enfant:
Kennst du deinen Vater wirklich so schlecht, um zu glauben, dass er auf einen einmal gefassten Entscheid zurückkommt, einzig, weil du es wünschst und insistierst? Du wärest sehr erstaunt – und, hoffe ich, enttäuscht –, wenn ich es täte. Ich habe dir erklärt, wieso ich dir nicht erlauben konnte, deinen Kinoapparat mitzunehmen. Nur weil deine Kameraden anderer Meinung sind, haben meine Argumente nichts von ihrem Wert eingebüsst.
Der Vater ist auch enttäuscht über die schludrigen und von Fehlern strotzenden Mitteilungen des Jungen. Fünf Fehler auf fünf Zeilen! Wenn das so weiter gehe, werde er ihn täglich ein Diktat machen lassen. Die fehlerhafte Karte inklusive Korrekturen schickt der Vater Jacques zurück. Erinnert er sich an die ihm einst von der Mutter verordneten Diktate? Pilet möchte auch, dass der Sohn nicht nur schreibt, um irgend etwas von den Eltern zu verlangen, sondern auch kurz sagt, ob es ihm gut gehe. Aber der Vater will den Brief nicht «sauersüss» enden:
Wir, die Mutter und ich, wünschen euch allen gute Gesundheit. Möget ihr euch im guten und warmen Licht herumtollen, bald auch baden. Iss und schlaf gut. Laufe mit vollen Lungen in der frischen Luft, bereite Mademoiselle Freude und sei fröhlich.
Er unterzeichnet den Brief mit dem Übernamen, den ihm der Sohn gegeben hat: «Tendrement, La Pape».
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Im Oktober wird der Wahlkampf mit harten Bandagen geführt, doch im Ergebnis bleibt alles mehr oder weniger beim Alten. Verschiebungen bei den Mandaten beschränken sich auf ein bis zwei Sitze.
Fern vom politischen Rummel kann sich Marcel Pilet-Golaz mit Frau und Sohn einige Ferientage im Tessin gönnen. La Suisse hat seinen Ferienort Cassarate erraten, was ihm «trotz getroffener Vorsichtsmassnahmen» die unerwünschte Zustellung von Briefen einträgt. Wahre Ruhe, so schreibt er seinem Vater, hat ein Politiker eben nur im Ausland. Das Wetter ist schön, die Temperatur angenehm. Bei einer Wanderung der Familie über den San Salvatore muss man sich zur Mittagszeit wie in den Hundstagen den Schweiss abwischen.
Wir waren nicht die Einzigen, die die Sonne schätzten. Auf dem engen und holprigen Pfad, dem wir entlanggingen, begrüsste uns mit ihrem Rascheln eine von Stein zu Stein hüpfende prächtige Viper. Von da an schauten wir trotz der Schönheit der Landschaft brav, wohin wir unsere Füsse setzten.
Auch seine Meinung über den Gang der Welt tut Sohn Marcel dem Vater Edouard kund:
Wenn Russland nicht über alle Übel der alten kapitalistischen Welt höhnte, wenn Deutschland nicht zwischen zwei Diktaturen zauderte, wenn England nicht auf die Prinzipien, die während Jahrhunderten seine Grösse und seinen Stolz ausmachten, verzichtete, und wenn China und Japan nicht zeigten, wie leicht Macht anstelle des Rechts tritt, wenn ich nicht wäre … was ich bin, wäre der kurze Ferienaufenthalt in Castagnola köstlich …
Er hat dem Vater geschrieben, weil er ein Anliegen hat: «Du weisst, dass ich seit Langem ein kleines Bauerngut suche, am liebsten an der Côte zwischen Aubonne und der Promenthouse.» Er habe nun über eine vorgeschobene Berner Person ein Inserat aufgegeben. Unter den Antworten dünkte ihn eine interessant:
Das Bauerngut scheint gut gebaut und relativ gut gelegen. Bleibt herauszufinden, ob der Boden gut ist und die Gebäude gut erhalten. Der Preis scheint auf ersten Blick normal, sogar günstig. Aber all dies muss nachgeprüft werden. Da es sich um eine Gegend handelt, die du gut kennst, würdest du dies übernehmen, ohne vorerst zu sagen, dass es mich betrifft? Danke zum Voraus.
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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