35. Service public Aus «Politiker wider Willen»

Das Radio steckt 1930 noch in den Kinderschuhen. Seit 1909 liegt die Oberaufsicht über Telegrafie- und Telefonverkehr und damit auch über dem Radio beim Post- und Eisenbahndepartement. Man will in der Schweiz keine «amerikanischen Verhältnisse» und kein «Chaos im Äther» mit Tausenden frei aus dem Boden schiessenden Radiostationen. Bis 1926 haben sich fünf lokale Radiosender etabliert, die sich darauf einigten, zusammenzuarbeiten und die vom Bund verordneten Konzessionsgebühren unter sich zu verteilen. Nach dem Muster der britischen BBC soll der Schweizer Rundfunk ein service public werden. Der Bundesrat beschliesst den Bau zweier Landessender, einen für die welsche und einen für die deutsche Schweiz.

Am 21. März 1931 spricht Bundesrat Pilet-Golaz zur ersten Delegiertenversammlung der eben gegründeten Schweizerischen Rundspruchgesellschaft (SRG):

Denken wir daran, dass der Rundfunk für das Publikum gemacht ist und nicht das Publikum für den Rundfunk. Seine Wünsche, sein Geschmack, seine Bestrebungen gilt es zu verstehen. Wir sollen das Publikum leiten, bereichern, inspirieren. Aber wir dürfen ihm keine Ethik aufzwingen, die es nicht will oder die ihm fremd ist. Schönheit, die sich aufdrängt, tut dem Menschen Gewalt an. Erklimmen wir jene Höhen, die jeder erreichen sollte, aber gebärden wir uns nicht als Himmelsstürmer.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Pilet zeigt sich liberal und tolerant. Gleichzeitig hat der vom Weltkrieg Gebrannte eine chronische Angst vor Zwietracht und Chaos:

Der Rundfunk darf nichts unternehmen, was die politische und moralische Ruhe der Bürger, ihre Einsicht und ihr Einvernehmen trüben könnte. Kein Kampf, keine Propaganda und keine Polemik …

In der Junisession 1931 geht es um Radiofragen. Der St. Galler Sozialistenführer Johannes Huber kritisiert, dass ein Redner am schweizerischen Rundfunk vorher sein Manuskript zeigen muss. Er vergleicht den schweizerischen Telegrafenminister Pilet-Golaz mit Metternich, wirft ihm Verrat an den Waadtländer Freiheitsbegriffen vor und versucht «den höflich, heiter, mit einem roten Röschen im Knopfloch zuhörenden Herrn Pilet aus der Contenance zu bringen». Pilet beharrt auf der Vorzensur:

Diese Regel muss natürlich auch auf die Aussenpolitik angewendet werden, weil der Rundfunk bei uns einen offiziellen Charakter hat und weil man den Staat für jedes Wort verantwortlich machen kann, das allenfalls die internationalen Beziehungen kompromittieren könnte.

Huber möchte, dass vor den Oktoberwahlen jeder Partei jeweils an einem Abend pro Woche Sendezeit erhalte. Pilet will nichts davon wissen. Wenn man das Radio in den Dienst der Politik stelle, bestehe die Gefahr, dass die Partei, die an der Macht ist, es gegen die Minderheiten missbrauche.

Auch im Dezember muss Pilet Interpellationen zum Radio beantworten. Zu den häufigen Pannen, über die sich die Hörer beklagen, erklärt Pilet, dass ein Radiosender eben kein einfacher Apparat sei, wie etwa ein kleiner Heizkörper, der ein Arbeitszimmer wärme, sondern eine «komplizierte, ich würde sagen, beinahe lebende Installation». Welsche Hörer reklamierten eher als die Hörer von Beromünster.

Wieso? Wahrscheinlich wegen des Temperaments. Unsere confédérés leiden im Stillen. Dies ist bemerkenswert. Ich gratuliere ihnen. Aber vielleicht ist dies auch nicht ganz glücklich. Wenn nämlich die Romands leiden, protestieren sie. Und weil sie protestieren, hören sie auf zu leiden. Dies ist vielleicht besser so. Die Freude am Protestieren lässt Kummer und Leid vergessen.

Zu den Programmen hat Pilet wenig sagen. Die Rolle des Bundes sei rein technisch:

Wir haben noch nicht daran gedacht – und ich hoffe, wir werden noch lange nicht daran denken –, aus der Verwaltung die grosse geistige Herrin des Rundfunks zu machen. Eine offizielle Kultur! Eine offizielle Kunst! Was gibt es Langweiligeres als ein Auftragsgedicht? Was gibt es Öderes als ein Bild, das im Voraus für ein Lokal bestellt worden ist, um ein bestimmtes Sujet zu feiern? Und die offiziellen Reden erst? Sprechen wir nicht davon.

«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany


Beitrag vom 18.05.2025

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