34. Krieg der Häuptlinge Aus «Politiker wider Willen»
Am Samstag, 15. November 1930, empfängt Pilet «auf dessen Wunsch» Oberst Robert Jacquillard, Kommandant des Infanterieregiments 1 und im Zivilleben Chef der Waadtländer Kantonspolizei. Jacquillard, ein Duzfreund, beklagt sich über seinen Vorgesetzten Charles Sarasin, den Kommandanten des 1. Armeekorps. Sarasin, ehemaliger Geologieprofessor in Genf und nun Berufsmilitär, hat Streit mit verschiedenen ihm unterstellten hohen Offizieren, darunter Divisionär Ernest Grosselin von der 1. Division, Pilets ehemaligem Chef, und Roger de Diesbach, dem Kommandanten der 2. Division. Jacquillard erklärt, dass, wenn Sarasin bleibt und Grosselin seine Rücktrittsdrohung wahr macht, auch er gehen werde. Pilet versucht seinen erregten Freund zu beruhigen.
Gleichentags triff er in Lausanne Oberst Perrier, der sich ebenfalls über Sarasin beschwert. Auch er will gehen, wenn Sarasin bleibt. Das welsche Offizierskorps sei zutiefst demoralisiert. Grosselin dürfe nicht zurücktreten und müsse weiter die 1. Division führen.
Pilet und sein ehemaliger Chef Grosselin sind befreundet. Wenn Divisionär Grosselin Geschäfte in Bern hat, besucht er seinen ehemaligen Adjutanten Pilet am Scheuerrain. Sie schreiben sich regelmässig. In seinen Briefen spricht Grosselin den Bundesrat mit mon colonel an. Pilet will sehen, was er tun kann. Er empfiehlt den welschen Offizieren, vorläufig jede Pressepolemik, jede Interpellation im Parlament und jede Opposition gegen die Militärkredite zu unterlassen. Am Montag, 17. November, schickt er dem Kollegen Minger einen handgeschriebenen Brief, der so endet:
Die Ruhe wird erst einkehren, wenn Sarasin gegangen ist. Durch seine oft oberflächlichen und ungerechten Urteile, die fast immer bösartig sind, durch seine ewige und bissige kritische Haltung, durch seine sonderbaren Kehrtwendungen, seine Widersprüche am Rande der Illoyalität, durch die Entmutigung, die er im Offizierskorps säte, hat er einen solchen Hass auf sich gezogen, dass früher oder später sich nolens volens seine Beurlaubung aufdrängen wird. Karthago muss zerstört werden.
Unnötig zu sagen, dass viele die unter unseren grands chefs ausgetauschte Korrespondenz kennen; es genügte ein … Nicht, dass sie veröffentlicht würde. Das wäre eine schöne Geschichte! Ich habe mein Bestes getan, die Wogen zu glätten.
Minger ist natürlich über den Krieg der Häuptlinge auf dem Laufenden. Im Moment, wo er mühsam dem Parlament Kredite für eine Modernisierung der Armee abzutrotzen versucht, wäre ein Skandal unter seinen höchsten Offizieren das Letzte, was er braucht. Während Pilet kategorisch die Entlassung Sarasins fordert, geht der sonst für sein stürmisches Temperament bekannte «Rüedu» Minger besonnener vor. Er lässt Generalstabschef Roost die näheren Umstände des Konflikts abklären und beauftragt ein Ehrengericht mit der Schlichtung des Streits zwischen Korpskommandant Sarasin und Divisionär de Diesbach. Beide sind ehemalige Kavalleristen, wie auch der Präsident des Ehrengerichts, der für sein Verhandlungsgeschick bekannte Korpskommandant a. D. Wildbolz. Wildbolz beruhigt die Streithähne. Sie reichen sich die Hand.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Wenn welsche Offiziere mit Entscheiden des Militärdepartements oder des von Deutschschweizern geführten Generalstabs nicht einverstanden sind, wenden sie sich an ihren Kameraden im Bundesrat, Oberstleutnant Pilet. Ärger bereitet das neue «Dienstreglement 1933», das von den Welschen als zu «preussisch» empfunden wird. Sie laufen Sturm gegen den «lächerlichen» Taktschritt. Major Roger Masson, der spätere Chef des Nachrichtendiensts, schreibt: «Unsere welschen Truppen sind instinktiv gegen den Drill, der den Menschen seiner Persönlichkeit beraubt und ihn zu einem niedrigeren Wesen macht.»
Pilet muss dem besonders insistierenden Nationalrat Pierre Rochat mitteilen, dass der Bundesrat leider nun auch die französische Fassung des Dienstreglements genehmigt habe. Er hat nichts machen können. Minger werde allerdings Weisung geben, dass beim Taktschritt nicht übertrieben werde und dieser nur auf dem Feld und nicht bei Défilés in Städten ausgeführt werde. Spöttisch schreibt Pilet von einem Vorbeimarsch in Zürich, wo die Soldaten auf dem Bahnhofplatz derart stark mit ihren Nagelschuhen auf den Boden gestampft hätten, dass man die Musik nicht mehr hören konnte. «Überhaupt kein Rhythmus mehr, völliges Durcheinander, Gelächter in der Menge, um nicht von Pfiffen zu reden.»
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany