29. Eine geprüfte Ehefrau Aus «Politiker wider Willen»

Marcel Pilet-Golaz bemüht sich, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Wenn er als Nationalrat in Bern weilt, an Kommissionssitzungen in fremden Orten teilnimmt oder als Offizier Dienst tut, schreibt er Karten und Briefe nach Hause. Aus dem Jahr 1928 hat Tillon besonders viele Schreiben ihres Mannes aufbewahrt, denn in jenem Jahr verbrachte sie viel Zeit mit ihrer kranken Mutter im Waadtländer Ferienort Gryon.

Marcel erzählt vom Wetter, von seiner Gemütslage, von Landschaften und Dörfern, die ihm auf Reisen besonders aufgefallen sind. Kaum über Politik. Natürlich geht es oft auch um Praktisches, Alltägliches. Er hat einen Teil seines Dossiers über das Enteignungsgesetz verlegt und wahrscheinlich in Lausanne liegen gelassen. «Hättest du die Gefälligkeit, im Dienstmädchenzimmer, oben im Korridor und im Salon nachzuschauen, um mich zu beruhigen?»

Im Mai ist Pilet an einer Kommissionssitzung in Lugano. Im Tessin ist es kalt und regnet: «Gestern Abendessen bei Biaggi mit Deutschschweizern. Sie sind sehr fröhlich, ma foi, aber sie reden einen jargon! Selbstverständlich enden sie im Gambrinus.» Pilet wird mit den deutschschweizerischen Dialekten immer seine liebe Mühe haben. «M. Musy organisiert einen Ausflug auf dem See. Ich habe den Mantel genommen, um so mehr als meine Nase läuft, läuft, läuft …»

Am Mittwoch, 15. August, erzählt Pilet, der in Lausanne in seiner Anwaltskanzlei arbeitet, seiner Frau von den Folgen eines vier Tage zuvor eingefangen Sonnenstichs: unlöschbarer Durst und heftiges Herzklopfen.

Ich weiss nicht mehr, was ich alles getrunken habe, Wein, Limonade, Wasser, Café crème, Bier. Tags darauf hat der Magen protestiert. Zum Frühstück Kamillentee, am Mittag nichts, ich hätte nichts nehmen können ausser Wasser. Am Abend wollte ich eine Suppe versuchen, aber ich musste rechtzeitig aufhören … nachher welche Nacht … kein Fieber, glaube ich, aber ein aufmüpfiges Herz … ich habe keine Minute lang ein Auge zugetan … ich habe zwei Betten und zwei Hemden durchnässt.

Pilet beklagt sich über die unerträgliche Hitze, das Gewitter, das sich verzieht und keine Linderung bringt. Als er endlich Zeit findet, seine Frau in Gryon zu besuchen, ist auch sie leidend. Seine Tillon hat Kopfschmerzen, einen aufgeblähten Bauch, ist erschöpft und überempfindlich.

Was ist los mit Frau Pilet-Golaz? Der Entwurf zu einem nicht signierten Brief in ihrer Handschrift gibt vielleicht Aufschluss über die Ursache ihres Unwohlseins. Der an «mon pauvre ami» gerichtete und unvollständig «Gryon, le … 1928» datierte Brief beginnt:

Wie ich zögere, diese Zeilen zu schreiben und wie meine Hand zittert. Ich werde den Mut finden, weil es sein muss. Zwischen uns darf nur die Wahrheit Platz haben. Du hast mir die Augen geöffnet über die Gefühle, die Mlle R., die Stenotypistin, dir gegenüber hegt. Sie entsprechen kaum dem, was man in einer Kanzlei, die sich respektiert, von den Beziehungen einer Angestellten und ihrem Patron zu erwarten das Recht hat.

Sie hätte ja leicht rasch nach Lausanne herunterfahren können, schreibt Tillon weiter, um sich zu vergewissern, ob der Wunsch von Simone [Mlle R.] «nach einer engeren Zusammenarbeit ausserhalb der Bürostunden» in Erfüllung gegangen sei. Und fügt hinzu: «Ich werde mich nicht zu einer derart unwürdigen Spionage herablassen.»

Tillon wird dem mit «armer Freund» angesprochenen Marcel keine Vorwürfe machen, aber es ist klar, dass sie ihn eines Seitensprungs verdächtigt. Seit einiger Zeit seien sie beide «mit der Eindeutigkeit eines Uhrzeigers auf dem Zifferblatt» auf diese fatale Stunde zumarschiert.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Die betrogene Ehefrau – wenn sie es denn war – hadert mit dem Schicksal: Die Mutter am Sterben, kein Vater und kein Bruder, keine Schulter, auf die sie sich stützen kann. Sie kann auch der Schwiegermutter, die sie oft getröstet und ermutigt hat, nicht ihr Herz ausschütten; «sie wird die Wertschätzung und die Zuneigung, die sie ihrem grand fils chéri entgegenbringt, unangetastet behalten.»

Tillon schreibt von sich, sie gehöre zu der «Rasse von Menschen, die allein die Last ihres Kummers tragen und die Ehre ihrer Familie wahren». Nachdem sie viel geweint hat, fühlt sie sich ruhiger und hofft, die Kraft zu finden, nicht mehr über die Sache zu reden. Sie wird die «Flamme ihrer Liebe, diese wunderbare Blume, die ihr ganzes Leben gewesen ist», tief in sich selbst vergraben und daraus eine Art glühende Kapelle machen, ein Refugium.

Die Zeit heilt. Eine neue, durch die Prüfung gereifte, für das Verlangen des Mannes verständnisvollere menschlichere Tillon wird neu aufleben:

Sie wird immer da sein, um deinen Schmerz und deine Sorgen zu teilen und nützlich zu sein. Wenn du später müde zu ihr zurückkehrst, wird sie den Himmel loben. Ich entschuldige mich für diese Zeilen … ich konnte dieses Geheimnis nicht länger für mich behalten.

Kein Gruss, keine Unterschrift. Sie steckt die Blätter in einen Umschlag und schreibt darauf: «lettre non envoyé de T. à M.» Marcel hat die nie abgeschickten Zeilen wahrscheinlich nicht gesehen. Aber es kann ihm nicht entgangen sein, dass Tillon misstrauisch geworden ist.

Die Briefe, die er im Spätsommer und Herbst aus dem Militärdienst, aus Bern und aus Reisen seiner Frau schickt, sind betont zärtlich.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 06.04.2025

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