14. Durchzogene Festtage Aus «Staatsmann im Sturm»
Die Pilets feiern Weihnachten 1939 in ihrem Bauernhaus in Essertines-sur-Rolle. Der Bundesrat hat das 14 Hektaren Land umfassende Gut Les Chanays 1932 im Namen seiner Frau gekauft und in verschiedenen Etappen renoviert. Es ist kein stolzer Hof, wie ihn sein Kollege Minger in Schüpfen besitzt. Kein herrschaftlicher Landsitz wie derjenige von General Guisan in Pully. Eher ein bescheidenes Bauernhaus ohne Komfort, ohne spektakuläre Sicht, abgelegen hinter der Hügelkette des Genfersees, abseits der Hauptverkehrswege. Les Chanays ist Pilets Refugium, in das er sich zurückzieht, um nachzudenken und zu lesen. Er macht dort gerne Spaziergänge und plaudert mit den Bauern.
Zuerst liess er das Gut durch einen Pächter bewirtschaften, seit April 1938 tut er dies mit Hilfe Frédérics, seines maître valet – Meisterknechts – selber. Er bestimmt, was auf welchen Feldern angesät oder gepflanzt wird – Weizen, Hafer, Gerste, Kartoffeln. Er sagt Frédéric, welche landwirtschaftlichen Geräte und welche Düngemittel er kaufen muss, wie die Obstbäume zu behandeln sind. Besondere Beachtung schenkt Pilet den Tieren – 2 Pferde, 3 Rinder, 6 Kühe, 1 Stier, 5 Schweine, 30 Geflügel. Am Heiligen Abend macht er sich Notizen über nennenswerte, den Betrieb betreffende Ereignisse der vergangenen Wochen.
18.9.39 Chamois wirft ein Kalb, aufgezogen unter dem Namen Gameline (rot und weiss).
Pilet hat selber seinen Kühen ihre Namen gegeben. Warum «Gameline»? Generalissimus Maurice Gamelin ist der Oberbefehlshaber der französischen Armee, auf den man auch in der Romandie grosse Stücke hält. Pilets Stier heisst Franco. Heimliche Bewunderung für den Diktator oder – wohl eher – weil man Stiere unweigerlich mit dem spanischen Stierkampf in Verbindung bringt?
9.11.39 Baronne kalbt und wirft einen Jungstier, der fünfzehn Tage später geschlachtet wird. (Lungenentzündung?)
Nachdem Anfang Dezember ein weiteres Jungkalb wegen Lungenentzündung abgetan werden muss, verschreibt der Veterinär für das nächste Kalb eine Desinfektion des Stalls und Impfung. Er pflegt die unglücklich ausgerutschte Bruyère, die sich am Knie verletzt hat, mit Heilsalbe und Kalzium. Die Heilung wird dauern. Die Stute Négrette wird am 4. Dezember ins Militär eingezogen und einem Füsilierbataillon in Schwyz zugeteilt.
Am 31. Dezember 1939 feiert Marcel Pilet-Golaz seinen 50. Geburtstag. Schon am nächsten Tag reist er nach Bern zurück, um am strahlend schönen Neujahrstag die Gäste zum traditionellen Neujahrsempfang zu begrüssen. Tags darauf rückt der 19-jährige Jacques in Lausanne in die Infanterie-Rekrutenschule ein. Es wird einsam werden am Scheuerrain. Die Mutter, die ihm beim Packen geholfen hat, macht sich Sorgen wegen der Gesundheit des Juniors. Der Winter ist besonders kalt und nass. Die Pilets erinnern sich an den Grippe-November 1918. Die Eltern ermahnen Jacques, keine feuchten Kleider zu tragen und die Wäsche zu wechseln. Der angehende Füsilier wird das ganze Jahr 1940 im Dienst stehen: Rekrutenschule, Unteroffiziersschule, Abverdienen, Offiziersschule, Abverdienen. Nicht immer kommt er an Wochenendurlauben nach Bern, sondern bleibt in Lausanne bei Verwandten.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Auf den Bundespräsidenten wartet eine grosse Arbeitslast. Obrecht, der Vizepräsident und Chef des mit Aufgaben überhäuften Volkswirtschaftsdepartements, fällt weiter aus. Der Solothurner erholt sich nur langsam von seinem Herzinfarkt und wird in den Protokollen der Bundesratssitzungen als «abwesend (leidend)» gemeldet. Minger vertritt ihn.
Seit Kriegsausbruch verhandelt die Schweiz separat mit Deutschland, Frankreich, England und dem «nichtkriegführenden» Italien, um Abkommen über Handels-, Transport- und Kreditfragen abzuschliessen. Der Bundesrat bemüht sich, die Handelswege ins Ausland offen zu halten, um Nahrungsmittel und Rohstoffe in die Schweiz zu bringen. Die Schweiz ist nicht selbstversorgend. Ohne eingeführtes Getreide würde das Volk hungern, ohne eingeführte Kohle würden Fabriken stillstehen. Die Ausfuhr von in der Schweiz produzierten Halb- und Fertigfabrikaten hält die Wirtschaft in Gang und bringt Arbeit.
Es ist im Interesse des Reichs, den Handelsverkehr mit der Schweiz auch im Krieg aufrechtzuerhalten. Bereits am 24. Oktober einigt man sich auf ein Abkommen, das die deutschen Clearingschulden abbauen soll, was der Schweiz erlaubt, ihre Warenlager zu füllen. Für den Gegenwert seiner für die Schweiz lebenswichtigen Kohlen und Eisenlieferungen kann Deutschland beliebig schweizerische Waren einkaufen.
Viel schwieriger gestalten sich die Verhandlungen mit Frankreich und England. Weil die Westmächte militärisch zu schwach sind, um an der Westfront offensiv zu werden, konzentrieren sie sich auf den See- und Handelskrieg. Sie versuchen, die deutsche Wirtschaft zu schädigen und den Feind in Versorgungsschwierigkeiten zubringen. Engländer und Franzosen wollen nicht wieder einen langjährigen blutigen Schützengrabenkrieg wie 1914–1918, bei dem sie eine ganze Generation verloren. Besser, man hungert die Deutschen aus. Vielleicht stürzt das Volk dann sein verbrecherisches Regime.
In ihrer Blockadepolitik gegen das Reich gehen die Alliierten mit den Neutralen nicht zimperlich um. Frankreich konfisziert Handelsgüter mit Bestimmungsort Schweiz. Die Westmächte wollen der Schweiz ein sehr restriktives Abkommen aufzwingen, das die Einfuhr einer ganzen Reihe von Waren verhindern soll. In Paris muss sich Minister Stucki mit der französischen Bürokratie herumschlagen.
Seit dem 22. November sind die Verhandlungen unterbrochen. Als Stellvertreter des kranken Obrecht lädt Minger Bundespräsident Pilet-Golaz, Finanzminister Wetter und die von Minister Jean Hotz geführte Ständige Verhandlungsdelegation auf den 3. Januar zu einer Sitzung. Für Pilet, der sich in seinem Departement nur am Rande mit Handelsfragen befassen muss, erhalten die Verhandlungen mit den Westmächten plötzlich Priorität. Als Bundespräsident studiert er die Dossiers und notiert sich die Hauptpunkte aus den Referaten der Schweizer Unterhändler. In Abwesenheit von Obrecht nimmt er selber das Heft in die Hand. Am 11. Januar lässt er sich von Minister Hotz über die von Frankreich und Grossbritannien gestellten Forderungen unterrichten. Er macht sich Aufzeichnungen über die Entwicklung der Handelsbeziehungen zu den beiden Blöcken und über die wichtigsten Import- und Exportprodukte.
Zuvor hat er sich neun Punkte aufgeschrieben, die es seiner Meinung nach bei den kommenden Gesprächen zu beachten gilt. Er empfiehlt, «mit Herzlichkeit zu handeln, jede Brüskierung zu vermeiden, aber Festigkeit» zu zeigen. Vor allem gelte es, «nicht zu verzweifeln». Die Schweiz habe Trümpfe in Frankreich, zu denen Ministerpräsident Daladier gehöre, der zwar noch nicht auf dem Laufenden sei, «aber keinen Bruch mit der Schweiz will». Käme es trotzdem zum Bruch, dann solle man dies akzeptieren und zwei oder drei Monate warten, bevor man die Verhandlungen wieder aufnimmt.
- Hier gehts zum Nachwort.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Staatsmann im Sturm» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Staatsmann im Sturm»
Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv