10. Romanze Aus «Politiker wider Willen»
Samstag, 26. Juni 1909
Ein Jahrmarkt in Orbe liefert dem im Militärdienst weilenden Präsidenten von Belles-Lettres den Vorwand, um mit den jungen Leuten des Fanion zusammenzukommen. Wie er Mlle Golaz ein Jahr später aus Deutschland schreibt, erinnert Marcel Pilet sich noch genau an jene «glückliche kermesse auf der Terrasse unter den schattigen Kastanienbäumen bei den alten römischen Türmen».
Es war für mich ein grausamer, aber süsser Tag. Ja, auch ich liebte Sie bereits. Ich liebte die Anmut Ihrer Gesten, das Leichte Ihres Haars, die träumerische Güte Ihres Lächelns. Ich liebte Sie schon sehr stark und nur für Sie allein bin ich hingegangen.
Grausam ist der Tag, weil er nicht weiss, ob Tillettes Herz schon einem anderen gehört. Vergeblich wartet Pilet auf ein Zeichen der Zuneigung, mindestens ein Zeichen, dass er ihr nicht unsympathisch ist. Nichts dergleichen. Sie scheint ihm gar aus dem Weg zu gehen. Wieso also in Orbe bleiben? Er sagt zu seinem Kollegen Weitzel, er werde mit dem Siebenuhrzug nach Lausanne heimkehren.
Dann kommt sie zu ihm und sagt ganz einfach: «Sie werden sehen, am Abend ist es immer viel besser. Bleiben Sie, ich garantiere es Ihnen!» Und er bleibt. Marcel redet mit Tillette, hört ihr zu, geht dorthin, wo sie hingeht. Er bewundert, wie im Tanz ihre Schritte gleiten, wie ihr Rock sich kokett und anmutig dreht. Dann ist die Reihe an ihm, sie «um den Gefallen eines Walzers zu bitten». Zum Schluss verabschiedet sie sich: «Auf Wiedersehen, auf bald einmal, in den Ormonts, hoffe ich.» In den Ormonts in den Waadtländer Voralpen besitzt die Familie Golaz ein Chalet.
Man schreibt sich. Als une vieille amie, als alte Vertraute, gratuliert sie ihm zum Leutnantsgrad. Sie bittet ihn – als Kenner der Literatur und erfahrenen Theatermann – um Rat. An einer privaten Abendgesellschaft in Orbe möchte sie eine Stelle aus einem Theaterstück rezitieren und ersucht ihn um Vorschläge.
Mittwoch, 1. September 1909
An einem sonnigen Spätsommerabend hat der in den Manövern weilende Leutnant Pilet in einem Waadtländer Kaff Wachdienst. Gelangweilt liegt er im Stroh auf dem Bauch. «Mon lieutenant, ein Brief für Sie!» Tatsächlich, ein Brief, adressiert an «Monsieur le lieutenant Pilet, in den Manövern». Ein Brief nicht mehr von T. Golaz an den Präsidenten von Belles-Lettres, sondern von Tillette Golaz an Marcel Pilet. Ein Brief, der ihn an das maliziös hochgestülpte Näschen der heimlich Angebeteten erinnert und in ihm Träume von gemeinsamen Spaziergängen unter den Pappeln des Moores von Orbe weckt. Der Brief beginnt mit «Ihnen zu Befehl, mon lieutenant, würde ich antworten, wenn ich einer Ihrer kleinen Soldaten wäre und nicht eine demoiselle, die Sie zu wenig … oder zu gut … kennen».
Genau ein Jahr später wird er der zu ma Tillon gewordenen Freundin schreiben:
Schon liebkoste mich das Parfum Ihrer exquisiten Seele und berauschte mich. Ich war zufrieden, zufrieden, zufrieden. Ich wollte grundlos lachen, singen, schreien, mich im Heu wälzen.
Leutnant Pilets Ordonnanz – der «impertinente Dupont, der sich mit mir alles erlaubt, aber ein guter Bursche, rauer Soldat, der für seinen Leutnant durchs Feuer gehen würde» – kommt zu ihm, zwinkert mit den Augen und bemerkt halb respektvoll, halb spöttisch: «Ganz gewiss ist der Brief von der bourgeoise, mon Monsieur,dass Sie so herauslachen.» Bourgeoise ist ein familiärer Ausdruck für Frau, Gattin, Freundin. Weiter fragt Dupont: «Ist sie hübsch?» Pilet hätte Lust zu antworten: «Eh, oui, Dupont, Du hast richtig geraten, wegen dieser Bourgeoise bin ich so fröhlich. Und ob sie hübsch ist? Oh, hübsch, hübsch wie eine Rose am Morgen.» Aber als Offizier, der auf seinen Rang achtet, erwidert er halb scharf, halb amüsiert, es sei schmählich für eine Ordonnanz, die etwas auf sich halte, derart dumm daherzuplappern und seinen Monsieur zu unterbrechen. Ausserdem sei sein Offiziersäbel dreckig und Dupont in seinem Zug der Faulste aller Faulpelze …
Dupont nimmt den Verweis nicht ernst. Beim Weggehen gibt er seinem Leutnant einen leichten Ellbogenstoss und sagt, er solle «sie» bitte von ihm herzlich grüssen lassen. Während des Rests der Manöver ist der Leutnant in aufgeräumter Stimmung.
Von jenem Tag an gelang es mir, meine Männer besser zu nehmen. Am Schluss haben alle mir, dem Leutnant, den die meisten nicht ausstehen konnten – den anfänglich alle, bis zum Letzten, nicht ausstehen konnten – mit einem «bis zum nächsten Jahr» freundlich die Hand gegeben.
Donnerstag, 13. Oktober 1910
Telefon eines Freunds aus Yverdon, der mit Mutter und Schwester die Landwirtschaftliche Ausstellung in Lausanne besuchen will, die sich Pilet auf Drängen des Vaters bereits unwillig angeschaut hat. Kann Marcel ihr Führer sein? Er macht gute Miene zum bösen Spiel, steuert die Gesellschaft durch die Stände, als er kurz vor Mittag im Saal der Weine ein bekanntes, liebes Gesicht erblickt. Er sagt bonjour und geht weiter – «man ist Führer oder man ist es nicht». Schliesslich kann er sich von den Yverdonern verabschieden, setzt sich auf eine Bank «nicht weit von den Blumen, nicht weit von den Weinen», und wartet. Dort kommt ein Herr auf ihn zu: «Bonjour Monsieur Pilet, was tun Sie hier?» – «Wie Sie sehen, suche ich jemand!» – «Genau wie ich, suchen wir doch zusammen.» Der Herr, ein ehemaliger Bellettrien, jetzt Schuldirektor in Aigle, unterhält sich angeregt mit Pilet, bis dieser unvermittelt aufsteht, einige Worte stammelt und wegläuft. Er hat sie entdeckt!
Tillette hat ihre Entourage verloren, ist allein, schlecht gelaunt, sagt sie. Immerhin nimmt sie seine Begleitung an. Ein Jahr später erinnert sich Pilet noch an alles: die Vögel im Stroh, das Holz aus Orbe, den säuerlichen Most, die Stickereien, die «Maggi»-Pastinake, deren kulinarische Verwendung sie beide nicht kannten, das Portemonnaie, das sie ihm anvertraute, ihren Mantel, den er «mit einer Mischung von Glück, Heroismus und Ehrfurcht» auf seinem Arm trug. Ja, und dann hat sie halt ihren Zug verpasst. So spaziert man zusammen zur Buchhandlung Lapie und zu einem Laden, in dem sie Stickereien kauft. Zum Abschied sagt sie: «Und wenn Sie zum Artillerieschiessen kommen, verpassen Sie es nicht, bei uns im Haus vorbeizuschauen. Dies würde uns freuen.»
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Sonntag, 30. Oktober 1910
Pilet kommt zum Pierrefleur-Ball nach Orbe. In den frühen Morgenstunden begleitet er Tillette nach Hause. Geplauder beim «weissen Rauch eines letzten Tees.» Am Nachmittag Spaziergang mit Freunden und Freundinnen im Tal der blauen Orbe, am Abend erstes langes Gespräch zu zweit unter Kastanienbäumen auf einer kleinen Terrasse.
Sie sassen neben mir, ein wenig müde, halb ausgestreckt auf einem Schaukelstuhl, Ihr Fuss spielte mit nichts in der Luft. Ich war beinahe am Boden, auf einem kleinen gestickten Schemel, und mit zitternder Hand habe ich ein Band, das sich von Ihrem Stiefelchen gelöst hatte, wieder zurechtgerückt oder getan als ob … Ich liebte Sie schon, von vollem Herzen.
Donnerstag, 10. November 1910
Bevor er ins Bett geht, schreibt er Tillette einen mehrseitigen Antwortbrief:
Ihr Brief! Sie können nicht glauben, welche Freude er mir gemacht hat, oder vielleicht können Sie es spüren. Ich wollte ihn lesen und nochmals lesen in meinem freundlichen, warmen Zimmer. Hier an meinem Arbeitstisch, wo ich meine gewohnten Chrysanthemen streichle und von meinem ganzen vertrauten und intimen chez moi umgeben bin; hinten in der Ecke meine grosse Pendule, welche ein wenig grob die Sekunden zählt, wie eine alte, durch ihre Aufgaben verhärtete Magd.
Dann wird der junge Mann noch poetischer. Er schreibt von den ruhig fallenden Blättern – den feuilles mortes (viele Jahre bevor Kosma und Prévert ihr weltberühmtes Lied schreiben werden):
Sie fallen, um auf ihrem geliebten Boden zu sterben, in einer bekannten Erde, die sie innig empfängt. Und das erinnert einen an die schönen Alten, die dort unten in dem unter der Sonne lächelnden Friedhof ruhen, am Rande der Strasse ganz am Ende des Dorfs. Wissen Sie, einer dieser kleinen bescheidenen Landfriedhöfe, die von einer Hecke von schwarzen Tannen umgeben sind. Mit einem alten Tor, das nicht mehr gut schliesst und wacklig der Hand nachgibt, die es aufstösst. Ich habe immer gehofft, auch an einem so friedlichen und ruhigen Ort in den grünen Feldern zu ruhen.
Marcel erklärt, wieso er im Monat zuvor an der Abendgesellschaft in Orbe geschwiegen hatte, als Tillette das Gedicht La Brise aus Les Bouffons rezitierte. Ein Stück von Miguel Zamacoï, das mit Sarah Bernhardt in der Hauptrolle 1907 in Paris uraufgeführt wurde. Sehr gerne hätte er ihr ein Kompliment gemacht:
Sie sind so zierlich dahergekommen in Ihrem rosafarbenen, diskret engen Kleid, um uns von der Liebe dieses unglücklichen «Zephyr» zu erzählen; Ihre Stimme war der Reihe nach so liebwert, so ernst, so zornig, dass man sich genussvoll gehen liess, um der Legende des Gedichts nachzuträumen.
Er habe geschwiegen, weil er fürchtete, sie würde ein Kompliment als törichte Galanterie auffassen, «als die Höflichkeit eines Tänzers, der schmeicheln und den Geistreichen spielen will». Weil ihn Tillette um sein gerechtes Urteil gebeten hat, liefert er es:
Ausser zwei kleinen, ganz geringen Fehlern – der Sorge um perfekte Artikulation, die ein wenig weit getrieben wurde und die das Gefühl einer schwierigen und mühsamen Arbeit hinterlässt, und einer gewissen Eile im Redefluss – Sie markieren den Takt nicht genug – hat mich Ihre Brise absolut entzückt und dies ist der Grund, wieso ich Ihnen dazu kein Wort gesagt habe.
Liebe macht nicht ganz blind. Bellettrien bleibt Bellettrien, Schulmeister Schulmeister.
Zum Schluss seiner langen Epistel erwähnt Marcel noch, was ihn im Augenblick am meisten beschäftigt, die Theaterproben und das näher rückende Doktorexamen:
Unsere Theaterproben haben begonnen und fast jeden Abend gehen wir zum «Guillaume » hinauf, um uns die schwere Prosa des Avare in den Kopf zu hämmern. Dies ist nicht einfach und tatsächlich fehlt mir dieses Jahr die gewohnte Begeisterung. Mit Schuldgefühlen denke ich an meine bevorstehenden Examen. Beim blossen Gedanken durchzufallen, habe ich keine Lust mehr zu spielen – adieu, Molière, Belles-Lettres, Beifall und Kränze.
Mittwoch, 16. November 1910
Düsterer Regentag. Beerdigung. Ein Cousin von Marcel ist gestorben. Nachher trifft man sich bei Henry. Marcel hat das Gefühl, das Tillette ihn vielleicht ein wenig, ein klein wenig, liebt, und er freut sich, sie wiederzusehen. Doch sie ist reserviert, behandelt ihn gleich wie die andern Kollegen, mit der auserlesenen kameradschaftlichen Liebenswürdigkeit, die ihren Charme ausmacht und «die tötet», weil er mehr erwartet. Schweren Herzens kehrt er nach Hause, verflucht den Tag, verflucht das Leben. Er ist sicher, dass Tillette ihn nicht liebt, ihn nie lieben wird.
Freitag, 18. November 1910
Auf den späteren Abend verabredet Marcel sich mit Henry Vallotton, den er durch Tillette kennengelernt hat, den er zwar noch kaum kennt, dessen «offenes Herz, Aufrichtigkeit und Liebenswürdigkeit» ihn stark anziehen. Beide haben Proben, Pilet für den «Geizigen», Vallotton für einen Gesangsauftritt mit den Zofingern. Um zehn Uhr ist Pilet fertig, verlässt den «Guillaume», stapft durch den schweren schmelzenden Schnee, die Kälte, die leeren Strassen, um Henry am Sitz der Zofinger, der «Maison Blanche», abzuholen. Er wartet, wartet lange, einige unbekannte Zofinger treten heraus und das ist alles. Kein Henry. Auch kein Licht mehr im Haus. Kommt er nicht? Will er nicht kommen? Wie ein Dieb schleicht Pilet ins Zofinger-Haus. Dunkel, kein Mensch.
Er geht zum Bel-Air-Platz, wo Vallotton wohnt. Nichts. Kein Licht. Er wartet vor dem Hauseingang. Schliesslich erscheint Henry, hastig und nervös. Auch er hat den Kollegen überall gesucht. Man steigt in sein warmes Zimmer hinauf, beginnt leise miteinander über Tillette zu reden. Henry beruhigt Marcel, ermahnt ihn, heitert ihn auf. Dann wird alles zu viel für Henry, er bricht zusammen und gesteht: Auch er ist in Tillette verliebt gewesen, er hat auf seine Liebe verzichtet, gelitten – jetzt sind sie wie Bruder und Schwester:
An jenem Abend habe ich einen heroischen, übermenschlichen Menschen gesehen, ein edles Wesen, loyal, von perfekter Güte – ich, der ironische Causeur, der vorgibt, an nichts zu glauben, der beinahe sicher ist, dass das «Gute» und das «Schöne» nicht existieren, hatte er doch im Leben derart viel Hässliches gesehen, er, dessen drei Falten um den Mund seine ganze Desillusionierung und Verachtung für die Welt verrieten …
Und Pilet erkennt, dass es eine Pflicht gibt, dass nur die Pflicht gut und schön ist. Intelligenz, Kraft, Geist zählen nichts, wenn sie nicht gut, rein und edel sind. In der Morgendämmerung fühlt sich Marcel erschlagen, vernichtet, aber er ist «ein verklärter Marcel, ein besserer Marcel». Henry ist jetzt sein Freund und er ist stolz auf diese Freundschaft. Das Leid hat sie auf ewig vereint. So glaubt er.
Montag, 5. Dezember 191
Pilet steht im grossen Lausanner Theatersaal auf der Bühne. Der Prolog, der über die an der Landwirtschaftsausstellung auftretenden Notabeln spottet, schlägt ein: «Einige Situationen sind von absolut unwiderstehlicher Komik» (Gazette de Lausanne). Vor seinem Auftritt hat ihm Tillette einen lieben und zärtlichen Brief geschrieben, der ihn ermunterte. In der Pause nach dem 4. Akt gibt sie ihm ihr Händchen, um ihm Mut zu machen, und am Schluss wirft Henry ihm spontan seine Mütze zu, diejenige, die sie mit «Tillette» signiert hatte.
Montag, 26. Dezember 1910
Marcel hat von Tillette einen «guten, tiefen, vollen, erlesenen» Brief erhalten, das schönste Weihnachtsgeschenk, das er sich vorstellen kann. Wenn er ihn liest und wieder liest, scheint er weit in der Ferne im Nebel die Glocken seiner Jugend zu hören. Er dankt ihr «unendlich» auch für ihr Portrait, das er in seinem Schuh gefunden hat.
Es ist vor mir, sieht mich an, auf meinem Arbeitstisch, und es wird immer dort sein, wenn ich allein bin, wie mein Schutzengel.
Auch von Henry hat er an Weihnachten dessen Portrait erhalten.
Er ist da, mit seiner Schärpe, sehr gerade, das Gesicht fest und doch nachdenklich, in die Ferne blickend, mit Güte, ein wenig von Melancholie verschleiert.
Januar, Februar 1911
In den ersten beiden Jahresmonaten sieht Pilet seine Freundin nur selten. Er ist voll mit der Examensvorbereitung beschäftigt. Er arbeitet so hart wie noch nie, aber die Arbeit fällt ihm leicht, weil ihn die Freundin unentwegt moralisch unterstützt:
Zweifellos hatte ich schon vorher Freunde, einen grossen Freund, aber dies sind Zuneigungen unter Männern, die nichts mit den zarten und tröstlichen weiblichen Zuneigungen zu tun haben.
Mittwoch, 22. März 1911
Das Examen ist bestanden. Wenn er durchgefallen wäre, hätte ihn dies getroffen, aber der Erfolg macht ihn auch nicht besonders glücklich. Und doch hätte er allen Grund, zufrieden zu sein. Die Expertenkommission hat ihm sogar zu seinen glänzenden Resultaten gratuliert!
Ich weiss nicht, ob diese Herren während meiner Befragung geschlafen haben, ob sie nicht zugehört haben oder ob Sie, Tillon, die Daumen besonders hart gedrückt haben, aber ich habe aus Versehen einen Durchschnitt von etwas über neun erhalten! Die Folge war bei mir eine intensive und tiefe Verachtung für die Universitätsnoten. Sie sind wirklich viel zu leicht.
Das glänzend absolvierte Examen lässt ihn irgendwie leer und ausgepumpt, ohne Lebensinhalt.
Dies kommt übrigens von meinem Charakter und ich bin immer so gewesen. Das zu erreichende Ziel zieht mich stark an, und nachdem das Ziel erreicht ist, macht mir dies kaum Vergnügen. Die Anstrengung hat bei mir immer mehr Reiz gehabt als das Ergebnis.
15. April 1911
Ein Datum, das beide nie vergessen werden. Wochen später, in einem Brief aus Leipzig, lässt Marcel den denkwürdigen Tag wieder aufleben: Ich habe das blaue Kleid mit den hellen Streifen wiedergesehen, das schelmische Näschen, die leichten, kokett mit einem im Winde wehenden Federbusch bedeckten Haare. Ich habe den eng anliegenden, diskreten Jupe gesehen, wie es mit behutsamen Schrittchen zu mir kommt, um mich zu begleiten. Ich habe St-Sulpice wiedergesehen, das Dorfcafé, die Terrasse, die steinerne Bank. Ich habe die stolze und doch so sanfte Kirche wiedergesehen, so rein in ihrem Frühlingshimmel. Ich habe das klare und frohe Wasser gesehen, das an der Landungsbrücke murmelt, die grossen Pappeln, die zu uns zu sprechen schienen, sehr weit entfernt die Berge, die uns unwiderstehlich einander näherbrachten. Ich habe den unter der niedergehenden Sonne flammenden See wiedergesehen, der mich Ihren Arm stärker gegen mich pressen liess.
An jenem Abend versprechen sich «Marcelin» und «Tillon», wie sie sich jetzt gegenseitig nennen, ewige Liebe. Insgeheim haben sie sich verlobt.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany