1. Die Lehrerin und der Gemeindeschreiber Aus «Politiker wider Willen»
Cossonay erhebt sich auf einem felsigen Hügel, 150 Meter über der Ebene des Gros de Vaud, des fruchtbaren waadtländischen Mittellands. Im ausgehenden 19. Jahrhundert leben die rund tausend Einwohner des malerischen Städtchens hauptsächlich von Handel und Landwirtschaft. Auf den von Läden und Handwerkerbuden umsäumten mittelalterlichen Strassen herrscht reges Treiben. Vier Gasthöfe, drei Cafés und zwei Pinten sorgen für das leibliche Wohl von Einwohnern und Besuchern. Der jeweils auf vier Jahre gewählte fünfköpfige Gemeinderat, die Municipalité, präsidiert vom syndic, dem Stadtpräsidenten, überwacht den Gang der Dinge.
Im Laufe des Jahres 1888 prüfen die Gemeindeväter ein elektrisches Beleuchtungssystem, verkaufen für 10 000 Franken die Dorfmetzgerei, verbieten wegen der verursachten «Unordnung, dem Skandal und der Friedensstörung» die nächtlichen Versammlungen der Heilsarmee. Sie büssen einen Dragoner mit zwei Franken, da dieser mitten in der Stadt «sein Pferd eine Gangart hat anschlagen lassen, welche die öffentliche Sicherheit gefährdete», und verwarnen drei Bauern, die am heiligen Sonntag Heu auflasen. Ein anderer Missetäter muss 20 Franken Busse zahlen: Er hatte auf der Rue de Derriére la Place zwei Hühner herumflattern lassen. Ordnung muss sein. Man schaut aufs Geld in Cossonay. Auch kleine Ausgaben muss der Gemeinderat bewilligen. Immerhin beschliesst er den Kauf eines Ofens für die Wohnung für Mlle Schenk, régente, im Petit Collège.
Régente nennt man in der Waadt die Lehrerinnen und das 25-jährige Fräulein Ella Schenk unterrichtet die unteren Klassen. Das Petit Collège, das als Schulhaus dient, ist ein umgebautes Spital aus dem 15. Jahrhundert.
Mademoiselle wohnt im Petit Collège, einem im 15. Jahrhundert gebauten, später von der Stadt erstandenen geräumigen Wohnhaus, das einst als Spital und dann als Schulhaus diente. Schon aus weiter Ferne erkennt man das hoch oben in Cossonay stehende Gebäude an seinem Türmchen. Der Gemeinderat liess dieses aufrichten, als der altehrwürdige Zeitglocken am Stadtrand abgerissen wurde und er für die wertvolle antike Turmuhr ein neues Heim finden musste. Jeden Morgen läutet jetzt der Gemeindepolizist die Glocke im Petit Collège, um den Beginn der Schulstunden anzukündigen.
In Cossonay hat sich längst herumgesprochen, dass die allseits beliebte Lehrerin Ella Schenk einen flotten jungen Verehrer hat, den 22-jährigen Edouard Pilet. Dieser Edouard Pilet wird am Heiligen Abend 1888 überraschend vom Gemeinderat als Nachfolger für den plötzlich verstorbenen langjährigen Amtsinhaber zum neuen secrétaire municipal oder Gemeindeschreiber gewählt. Pilet, unternehmungsfreudig und ehrgeizig, ist vier Jahre zuvor als 18-Jähriger ins Städtchen gezogen, wo er den Beruf eines commis procureur oder agent d’affaires ausübt. So nennen die Waadtländer von alters her juristische Berater ohne Universitätsabschluss, die für ihre Mandanten treuhänderische Aufgaben übernehmen und sie in zivilrechtlichen Angelegenheiten vor Gericht vertreten können. Der ehrgeizige, umtriebige Zuzüger Pilet muss seinen Mitbürgern vorteilhaft aufgefallen sein. Nicht jeder bringt es zum secrétaire municipal.
Fünf Tage später wird «vor der Munizipalität in corpore» zur Vereidigung des neuen Gemeindeschreibers geschritten. Das Protokoll berichtet:
Monsieur Pilet tritt in die Sitzung ein. Monsieur le syndic liest ihm das feierliche Versprechen vor, worauf Monsieur Pilet mit den Worten antwortet: «Ich verspreche es.»
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Es ist dies nicht das einzige feierliche Versprechen, das der neue Gemeindeschreiber an jenem denkwürdigen Samstag, 29. Dezember 1888, ablegt. Unmittelbar nach der Gemeinderatssitzung wird der 22-jährige Henri Edouard Pilet, Bürger von Châteaud’ Œx», mit der 25-jährigen Lehrerin Ella Anna Schenk, von Rennaz, zivil getraut. Zwei Tage später findet in der Kirche von Gingins bei Trélex, wo Edouard aufgewachsen ist, die kirchliche Absegnung der Ehe statt. Im Namen der Eglise nationale evangélique reformée überreicht der Pastor dem Paar Pilet-Schenk eine gewichtige Familienbibel. Sie ist noch heute im Besitz von deren Urenkelin Jacqueline Pilet.
Edouard ist das dritte von elf Kindern des Lehrers Auguste Pilet, der in verschiedenen waadtländischen Ortschaften «in den kargen Feldern des Unterrichts» geackert hat. Schon Edouards Grossvater war régent und zog von Gemeinde zu Gemeinde, um sein nicht eben fürstliches Brot zu verdienen. Zuvor waren die in Château-d’Œx heimatberechtigten Pilets Bauern.
Auch Ella Schenk, Edouards neu angetraute Frau, stammt aus einer Lehrerfamilie. Trotz des deutschschweizerischen Namens ist sie eine waschechte Vaudoise. Einer ihrer Vorfahren zog schon im 17. Jahrhundert aus dem Lauperswilerviertel von Langnau ins untere Rhonetal, wo drei Generationen von Schenks in Rennaz einen Bauernhof bewirtschafteten. Der von der bernischen Herrschaft befreite junge Kanton Waadt förderte das Schulwesen energisch, und so kam es, dass Ellas Vater das eben gegründete Lausanner Lehrerseminar besuchte. Im Jura, wohin es den jungen Lehrer Schenk verschlug, lernte er eine aus den französischen Freibergen stammende Uhrmacherin kennen. Die beiden heirateten und liessen sich später in Chardonney nieder. Ihre 1863 geborene Tochter Ella Schenk ist in diesem oberhalb von Vevey liegenden malerischen Winzerdorf aufgewachsen. Mit 16 Jahren schickte ihr Vater sie ans Seminar in Lausanne und zwei Jahre später erhielt die aufgeweckte Ella das Lehrerinnenbrevet.
Die jungen Eheleute Pilet-Schenk wohnen in den Räumen der Lehrerin im Petit Collège, wo der Gemeinderat bald einmal Renovierungsarbeiten ausführen lässt. Das von Gemeindeschreiber Pilet geführte Protokoll erwähnt eine école Pilet, womit wohl die von Mlle Schenk, jetzt Mme Pilet, geführten unteren Primarschulklassen gemeint sind. Der Gemeinderat beschliesst den Ankauf einer Geografiekarte der Schweiz für die école Pilet.
Am 31. Dezember 1889, einem trüben Wintertag, entbindet die über 70-jährige Dorfhebamme die Lehrerin von einem gesunden Buben: Marcel Ernest Edouard Pilet. Marcel, später als Bundesrat Pilet-Golaz eine der umstrittensten Figuren der Schweizergeschichte des 20. Jahrhunderts, wird das erste Jahrzehnt seines Lebens im ländlichen Cossonay verbringen. Am 29. Dezember 1893 kommt Alice Ella Clara Pilet zur Welt. Alice, auch Lice genannt, wird oft krank sein und Marcel wird sich jahrelang liebevoll um seine kleine, seine einzige Schwester, seine sœurette, kümmern.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch.
Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany