Zwiespalt 4. Mai 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie jeden Montag aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Masken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. 

Ich klaube eines der blauen Dinger aus der Schachtel. Ich bin nicht so ganz sicher, welches die Vorder- und Rückseite ist und ob das überhaupt eine Rolle spielt. Ich zupfe an den Plastikschlaufen und führe letzte Rückzugsgefechte mit meinen inneren Widerständen: Noch vor zwei Monaten hatte ich behauptet, dass ich nie und nimmer eine Maske tragen würde. Sie passe nicht zu meiner Vorstellung von einer offenen Gesellschaft; ich wolle meinem Gegenüber ins Gesicht und nicht nur in die Augen schauen. Und selber will ich mich sowieso nicht hinter einer Maske verstecken. 

So habe ich immer zustimmend genickt, wenn der oberste Gesundheitshüter der Schweiz meinte, Masken würden vor Corona nicht schützen. Und eine Freundin belächelt, die ihr Lebtag zwar noch nie eine Vorsorgeuntersuchung gemacht, sich jetzt aber einen hundertfachen Maskenvorrat angelegt hat. Im Dorfladen bleibe ich vor dem grossen Korb mit den kleinen Päckchen «Made in China» stehen: Über neunzehn Franken kosten zwanzig dieser unattraktiven, plötzlich scheinbar unentbehrlichen Accessoires. 

Nun werden sie fürs Reisen im ÖV während der Stosszeiten dringend empfohlen. Am kommenden Mittwoch habe ich einen beruflichen Termin in Zürich. Ich spüre, wie mein Widerstand gegen das Maskentragen zu bröckeln beginnt. Ich werde unsicher, obwohl die rechnerische Wahrscheinlichkeit, einem der wenigen aktuell Infizierten ausgerechnet in meinem Zugabteil zu begegnen, verschwindend klein ist. Doch was, wenn alle mit einer Maske reisen? Bin ich dann noch mutig genug, keine überzuziehen? Handle ich meinen Mitpassagieren gegenüber fahrlässig, wenn ich es nicht tue? Ich weiss es nicht.  

Meine Schachtel mit Hygienemasken ist beim Frühlingsputz im Badezimmer – Corona macht’s möglich – zuhinterst im Schrank zum Vorschein gekommen. Wir hatten sie vor drei Jahren gekauft, als mir mein Mann nach einer Knieoperation trotz Husten und Fieber jeweils die Wunde neu verbinden musste. Auf der Schachtel steht der Preis: «CHF 8.40». Von den fünfzig Stück waren damals etwa drei gebraucht worden und mit zwei weiteren hatte die Kleine Operationsschwester spielen dürfen. Danach gingen sie vergessen. Erst jetzt lese ich den braun-orangen Aufkleber, der mir vor drei Jahren nicht einmal aufgefallen ist: «Masken für die Bevölkerung im Pandemiefall gemäss Empfehlungen des BAG.»  

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Beitrag vom 04.05.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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