Unser täglich Brot 5. Juli 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von glücklichen Ferientagen, hungernden Menschen und Food Waste.
Sommerzeit, Ferienzeit: Wir packen das Auto und den Hund und fahren nordwärts ins deutsche Pfälzer Weingebiet. Wie sehr haben wir uns auf diese paar Ferientage gefreut, und wie sehnsüchtig haben wir sie erwartet! Meinem Mann geht es nach einer komplizierten Beinoperation vor drei Monaten so gut, dass er sich – nach Jahrzehnten – Wanderschuhe kauft. Wir wandern durch Rebberge und durch den Pfälzerwald. Pures Glück und Dankbarkeit. Am Abend gehen wir essen. Auch Saumagen und Leberknödel stehen auf der Speisekarte. Dazu eine Flasche Riesling. Die Welt ist in Ordnung.
Zurück in der Ferienwohnung schalte ich den Fernseher ein. Zwei magere Kühe ziehen einen Holzpflug, hinter dem ein ausgemergelter Mann in Lumpen geht. Dazu der Kommentar: Im Süden Madagaskars hat es seit drei Jahren nicht mehr geregnet, die anhaltende Dürre treibt die Tropeninsel an den Rand einer Hungerkatastrophe. Der Film zeigt weitere Aufnahmen aus Afrika, wo die Heuschreckenplage ganze Landstriche verwüstet hat. In einem somalischen Dorf richtet sich die Kamera auf eine Frau mit verfilzten Haaren, die Kinder neben ihr mit leerem Blick und Hungerbäuchen.
Meine glückselige Ferienstimmung ist weg. Die Bilder lassen mich nicht mehr los. Alle zehn Sekunden stirbt weltweit ein Kind unter fünf Jahren an Unter- und Mangelernährung, gegen eine Milliarde Menschen leiden Hunger. Gleichzeitig gehen rund ein Drittel aller Lebensmittel auf dem Weg vom Feld bis zum Teller verloren oder werden weggeworfen. Pro Jahr sind das allein in der Schweiz gegen drei Millionen Tonnen – die Ladung einer Lastwagenkolonne von Zürich bis nach Madrid. Fast ein Drittel davon stammt aus Privathaushalten. Jede und jeder von uns lässt im Schnitt täglich 320 Gramm an Lebensmitteln im Müll verschwinden. Mir schwirrt der Kopf ob dieser Zahlen.
Der Kellner im «Pfälzerhof» erzählt, wie sehr sich seit der Pandemie das Problem von «Food Waste» – der Verschwendung von Lebensmitteln – noch verschärft hat. Alles, was mit einem Gast in Berührung kommt oder kommen könnte, werde weggeschmissen. Allein das viele Brot: Wurde es vor Corona getrocknet und zu Croutons und Paniermehl weiterverarbeitet, landet es jetzt im Abfall. Während wir es uns leisten können, aus dem täglichen Brot Biogas für den Autoantrieb zu machen, nagen andere am Hungertuch. Manchmal weiss ich nicht, wie das Wissen um diese Ungerechtigkeit auszuhalten ist.
An diesem Abend zitiert in meiner Ferienlektüre eine der Hauptfiguren den dänischen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard: «Das Leben ist kein Problem, das man lösen, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren muss.» Diesem Gedanken hänge ich immer noch nach.
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