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Tränen um die Katze 7. März 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom kleinen Prinzen und der Katzenseele im grossen Ganzen. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Die Welt geht unter und ich weine um unsere alte Katze. Ich nehme sie in die Arme und drücke mein Gesicht in ihr Fell. Von meinen bitteren Tränen wird es ganz nass. «Sie ist tot», sagt die Tierärztin, die ihr die erlösende Spritze gesetzt hat. Ich lege das Tier zurück auf den Behandlungstisch. Mit dem Stethoskop kontrolliert sie, ob kein Herzschlag mehr zu hören ist. Mein Hals brennt vom unterdrückten Schluchzen. Die Augen sind verquollen. Die Tierärztin schaut mich mitfühlend an. Ich möchte ihr gern sagen, dass ich weiss, dass es viel Schlimmeres auf der Welt gibt als eine tote Katze. Aber meine Stimme gehorcht mir nicht.

Meine deutsche Freundin meint, vielleicht seien das auch stellvertretende Tränen über die Hilflosigkeit und Ohnmacht über all das Leid, das wir zurzeit sehen. Dann müsste ich aber schon lange weinen: Das Leid ist vielerorts entsetzlich gross, jetzt ist es einfach nähergekommen. Eine andere vermutet, ich würde auch meine Unbeschwertheit betrauern, die mit der Pandemie und dem Krieg verloren gegangen sei. In siebzig Lebensjahren ist sie mir jedoch schon lange vorher abhandengekommen. Meine beste und längste Freundin aus Seminarzeiten schreibt: «Das hat mit innen und aussen zu tun.» Ich weiss sofort was sie meint. «Der kleine Prinz» von Saint-Exupéry kommt mir in den Sinn.

Auf seinem Planeten hegt und pflegt der kleine Prinz eine Rose. Er giesst sie, er schützt sie gegen Wind und Kälte, er bewahrt sie vor gefrässigen Raupen. Diese eine Rose ist für ihn bedeutungsvoll, er hat sie sich vertraut gemacht. Für ihn ist sie einzigartig auf der Welt. Der Fuchs nennt dem kleinen Prinzen den Preis für Freundschaft: Wenn der Abschied naht, werde er weinen müssen. Und er verrät ihm sein Geheimnis: «Man sieht nur mit dem Herzen gut.» Das meinte meine Freundin mit «innen» und «aussen». Meine Katze hat sechzehn Jahre lang mein Herz berührt. Nicht meinen Kopf. Das unterschied sie von hunderttausenden anderen Katzen. Meine Tränen sind der Preis dafür. Sie brauchen mir nicht peinlich zu sein. 

Am Nachmittag hebt mein Mann im Garten ein Katzengrab aus. Die Kleine legt Heu hinein und deckt das tote Tier damit zu. Mein Mann füllt das Grab mit Erde auf, und die Kleine schmückt es mit Blumen und Steinen. Wie jedes Mal angesichts eines toten Körpers frage ich mich, wohin die Lebensenergie mit dem letzten Atemzug wohl verschwunden ist. Ins Nichts? Manchmal ist dieser Gedanke unerträglich. Dann stelle ich mir vor, dass alles Leben irgendwo wieder zusammenfindet: Beethovens Musik und der trockene Humor meines Vaters, der Friedensgeist von Nelson Mandela, der Jodelgesang meiner Mutter, der gute Wille aller Menschen und das Lachen der Kinder. Aber auch die Treue unserer Hunde oder das Schnurren der verstorbenen Katze. 

Dann tröstet mich der Gedanke, dass auch ich dereinst in diesem grossen Ganzen aufgehoben sein werde – wo auch immer das sein mag: im Wasser des Meeres, dem Blau des Himmels oder dem Staub der Sterne.


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Beitrag vom 07.03.2022

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