Meinungsfreiheit 25. Mai 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom nahenden Abstimmungssonntag und dem Umgang mit Andersdenkenden.
Auf den Hunderunden begegne ich ihnen überall: den Plakaten gegen die beiden Agrarinitiativen. Sie stehen in Feldern und Hofeinfahrten, kleben an Rundballen und Holzstössen, sind an Hausfassaden und Scheunentoren aufgehängt. «Extrem, radikal, gefährlich», steht auf den einen. «Mogelpackung Trinkwasserinitiative, Preistreiber-Initiative Pestizidfrei» steht auf anderen. Gerade mal zwei Pro-Plakate kann ich ausmachen: an einem Einfamilienhaus und einem Bio-Bauernbetrieb. Die Meinung auf dem Land scheint klar. Im Dorf werden Diskussionen umschifft – wahrscheinlich wissen ohnehin alle, wo die Nachbarinnen stehen.
Die Kleine kommt von der Schule nach Hause: Lena habe sie gefragt, ob sie dafür oder dagegen stimmen würde. Lena ist ihre Banknachbarin. «Für oder gegen was?» frage ich. Und ob sie denn wisse, was eine Abstimmung überhaupt sei? Die Kleine sucht nach einer Antwort: «Bei einer Abstimmung kann man doch sagen, ob man für oder gegen das Spritzen auf den Feldern ist, oder nicht?» Sie habe jedenfalls gesagt, sie sei dagegen. «Und? Wie ging es weiter?» möchte ich wissen. «Lena hat mir gesagt, dass ohne Spritzmittel auf den Feldern nichts mehr wächst. Und wenn nichts mehr wächst, gäbe es keine Kühe mehr und wir hätten Hunger.»
Jetzt kommt sie in Fahrt: «Dabei ist es doch grad umgekehrt! Wenn man spritzt, geht der Boden kaputt, und dann wächst nichts mehr auf den Feldern.» Sie habe das aber nur gedacht, gesagt habe sie nichts. «Warum denn nicht?», möchte ich gerne wissen. «Dann hätte Lena mir gesagt, ich solle doch ihren Vater fragen. Aber das will ich sicher nicht.» Gerade will ich der Kleinen sagen, wie wichtig es ist, zu seiner Meinung zu stehen. Und dass man nicht Angst haben dürfe, sie laut zu sagen. Auch wenn andere Menschen anders denken würden.
Da kommt mir in den Sinn, wie ich bereits vor zwei Wochen am Haus einer langjährigen Freundin ein Nein-Plakat zum Covid-19-Gesetz gesehen habe: Das Gesetz beende die freie Schweiz, sei brandgefährlich, diskriminierend und unnötig. Eigentlich wollte ich sie ja darauf ansprechen. Ich habe mich auch nie wirklich mit meiner Tochter auseinandergesetzt, die sich nicht impfen lassen will, und meide Gespräche mit Bekannten, die obskuren Verschwörungstheorien nachhängen. Und selbst im engeren Freundeskreis, wo sich gemässigtere und radikalere Corona-Meinungen tummeln, äussere ich mich kaum noch. Ich glaube, ich mag einfach nicht mehr darüber reden. Das Virus soll endlich aus meinem Alltag verschwinden.
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