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«Mam, du wirst alt!» 14. Juli 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von erwachsenen Töchtern und alten Eltern. 

Ich sitze mit meiner Tochter im Auto. Wir streiten. Es geht um Hybrid, automatische Schaltung, Antriebsysteme und Elektroauto. Um etwas völlig Belangloses, von dem ich ohnehin keine Ahnung habe. Unsere Stimmen werden lauter. Meine Tochter findet mich begriffsstutzig, ich nenne sie stur. Für den Rest der Fahrt schweigen wir. Auf dem Heimweg beschleichen mich leise Zweifel: Habe ich vielleicht etwas falsch verstanden, ergab sich unser Streit aus einem Missverständnis? Zu Hause muss mein unparteiischer Mann schlichten. Tatsächlich: Wir haben aneinander vorbeigeredet. Ich merkte es nicht und meine Tochter versuchte immer lauter und ziemlich undiplomatisch, mir ihren Standpunkt verständlich zu machen.

Am nächsten Abend telefoniert sie: Sie wolle mit mir gar nicht streiten, sie meine es doch auch nicht bös und sowieso sei sie nicht über mich hässig, sondern über die Situation. Dann bricht es aus ihr heraus: «Mam, ich will einfach nicht, dass du älter wirst!» Aber langsam, ganz sachte und erst so ein ganz kleines bisschen – sie gibt sich alle Mühe, mir möglichst schonungsvoll ihren Eindruck zu vermitteln – merke sie mein Alter halt doch. Und sie wiederholt: «Natürlich weiss ich mit dem Kopf, dass auch du älter wirst und irgendwann stirbst. Aber mein Herz will das nicht.»

Ich muss laut lachen. Noch gut erinnere ich mich, wie es war, als ich bei meiner eigenen Mutter die ersten Anzeichen von Schwäche wahrnahm. Sie, die ein Leben lang so forsch, autonom und dominant gewesen war! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie jemals alt und abhängig werden würde. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Für die Zeitlupe konnte ich schliesslich zu diesem für mich so schwierigen Thema einen Artikel mit dem Titel «Kinder bleiben Kinder – Eltern bleiben Eltern» schreiben. Darin ging es um «filiale» und «paternale» Reife: Dass erwachsene Söhne und Töchter und ihre alten Eltern in eine neue Rolle hineinwachsen müssen, um sich auf Augenhöhe begegnen zu können. 

Dass ich selber älter und alt werde, merke ich jeden Tag. Dauerte früher eine Hunderunde vierzig Minuten, brauche ich heute für die gleiche Strecke fast eine Stunde. Gehen wir mit unseren Vierbeinern in den Waldbachgraben, hüpft meine Tochter in ihren Flipflops von Stein zu Stein. Ich trage hohe Schuhe und stütze mich auf die Wanderstöcke. Ich brauche schon wieder eine neue Brille, und für nächste Woche ist ein Hörtest angesagt. Immer häufiger vergesse ich Namen und Wörter, suche nach dem Portemonnaie oder der Hundeleine und bin Neuem gegenüber tatsächlich begriffsstutziger geworden. Es kommt vor, dass ich in den Keller gehe und dort nicht mehr weiss, was ich eigentlich holen wollte. Digital hat mich selbst die grosse Kleine abgehängt. Und meine Spanischwörtchen verschwinden manchmal so schnell aus meinem Kopf, wie sie gekommen sind. 

All das sage ich meiner Tochter und tröste sie, dass wir beide, ich und ihr Vater, uns mit dem Alter und unserer Endlichkeit längst arrangiert hätten. Dass ich für ein bisschen mehr Jugendlichkeit und Spannkraft kein einziges meiner 74 prall gefüllten Lebensjahre hergeben würde. Und dass der Umgang mit den älter werdenden Eltern für alle Söhne und Töchter in der Mitte des Lebens eine Herausforderung sei. Später am Abend schickt sie ein WhatsApp mit Herzchen und Sternchen. Natürlich wisse sie um unsere Sterblichkeit. «Aber bitte nicht jetzt und nicht morgen und nicht in nächster Zeit. Punkt.» 

Eine Begegnung im Hundegrüppli kommt mir in den Sinn. Gisela, die Besitzerin eines Golden Retriever, meinte: «Richtig alt wird man, wenn die eigenen Kinder die fünfzig überschritten haben.» Nächste Woche feiert unsere Tochter ihren runden Geburtstag. 

  • Wie gehen Sie mit dem Älterwerden und Ihrer Endlichkeit um? Haben Sie auch Kinder, die Mühe damit haben? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 14.07.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

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