Leseabend 3. Mai 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Eintauchen in eine andere Welt und vom Licht am Ende des Tunnels.
Samstagabend. Es regnet und ist wieder kalt geworden. Die Katze döst auf ihrem Hochsitz, der Hund schläft im Korb. Im Schwedenofen brennt das Feuer, mein Mann öffnet eine Flasche Rotwein und schenkt die Gläser ein. Ein gemütlicher Abend ist angesagt: Lesen, bis uns die Augen zufallen. Wir machen es uns in den roten Sesseln bequem. Während sich mein Mann auf Mördersuche durchs schottische Glasgow begibt, freue ich mich auf den neuen Roman von Juli Zeh. Meine deutsche Freundin hatte geschrieben: «Musst du unbedingt lesen. Die Autorin setzt sich mit Corona, Rassismus und anderen aktuellen Themen auseinander.»
Bereits nach wenigen Seiten bin ich eingetaucht ins brandenburgische Bracken, ein typisches ostdeutsches Strassendorf mit 284 Einwohnern. Dort hat sich Dora mit ihrer alten Hündin Jochen-der-Rochen ein heruntergekommenes Haus erstanden. Ich sehe sie vor mir, die ahnungslose Grossstädterin, wie sie mit ihrem Spaten der dazugehörigen verwilderten Brachfläche ein Stück Garten abzuringen versucht. Berlin und Corona sind weit weg, ihr glatzköpfiger Nachbar nennt sich Dorf-Nazi und wählt die AfD. Das Buch verwandelt sich vor meinem inneren Auge in eine Bühne, bevölkert von den unterschiedlichsten Personen. Der Film dauert 412 Seiten.
Geschickt hat die deutsche Autorin Juli Zeh die Rollen verteilt: Doras Freund Robert, früher verbissener Klimaaktivist, jetzt besessener Corona-Bekämpfer. Doras Vater, ein berühmter Neurochirurg, der sich über Corona und die Massnahmen der Bundesregierung hinwegsetzt. Und da ist Dora selber. Sie erträgt es nicht, dass nur noch Corona existiert – als wären Kriege, Flüchtlingselend oder Armut keine realen Probleme mehr. Gleichzeitig ist sie unsicher: Ob sie die herannahende Katastrophe vielleicht völlig verkennt? «Die Panik stieg, als wären Krankheit und Tod neu erfunden worden», beschreibt die Autorin die Situation im Land.
Ich denke an mein eigenes zwiespältiges Verhältnis im Umgang mit Corona. Ich halte mich an die verordneten Schutzmassnahmen, weil ich mithelfen will, dass die Pandemie bald vorbei ist. Ich spürte aber auch das Unbehagen, als plötzlich ausschliesslich Virologen, Epidemiologen und Infektiologen das Sagen hatten. Dass mich die Todeszahlen nie so erschreckt haben, wage ich bis heute kaum laut zu äussern. Ich bin dezidiert gegen die Abschottung alter Menschen in ihren Institutionen und habe ein mulmiges Gefühl gegenüber Homeschooling. Jetzt gehöre ich zu denen, die Licht am Ende des Corona-Tunnels sehen. Hoffentlich bald!
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