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Leben im Haus 20. November 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einem Unterbruch in unserem gemächlichen Pensioniertenalltag. 

Usch Vollenwyder
© Jessica Prinz

Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich das Kind vor bald dreissig Jahren zum ersten Mal sah. Seine Eltern – der Vater, ein treuer Freund während meiner Afrikazeit – waren auf der Durchreise von Deutschland nach Italien und machten bei uns Halt. Danach kam es regelmässig zu uns in die Ferien, spielte stundenlang mit dem damaligen Hund, durfte jeden Tag einen Film gucken und fütterte mit dem Bauern nebenan die Schafe. Auch als Jugendliche blieb sie uns treu: Aufgebrezelt kam sie jeweils hier an, entledigte sich ihrer Stadtklamotten und verwandelte sich innerhalb von fünf Minuten in ein «Mädchen vom Land». Seit sie erwachsen ist, hat der jährliche Besuch bei uns einen festen Platz in ihrem Programm.

Jetzt ist sie wieder für ein paar Tage da – zusammen mit einer Freundin und deren Hund. Mit dem Trio ist neues Leben in unseren Zweipersonenhaushalt eingekehrt. Zwar wird am Morgen ausgeschlafen, und tagsüber sind die jungen Frauen mit den Hunden – auch unserer kommt zu ungewohnt langen Spaziergängen – unterwegs oder fahren in die Stadt zum «shoppen». Doch beim Mittagsbrunch und beim Nachtessen sitzen wir zusammen um den grossen Tisch und erzählen, lachen und diskutieren. Zuerst werden wir von unserer jungen Freundin auf den neusten Stand ihres Liebeslebens gebracht, das zwar bunt, aber ziemlich unstet verläuft. Eigentlich warte sie ja immer noch auf ihren Prinzen, der sie auf dem «weissen Schimmel» in sein Schloss entführe …

Sie erzählt von ihrer Arbeit in einem Heim für psychisch kranke Kinder und redet sich in Rage: Dass sie als Mitarbeitende kaum Zeit hat für Nähe, Zuwendung und Gespräche. Dass die Streiks der letzten Monate – nicht für mehr Lohn, sondern nur für mehr Personal – nichts gebracht haben. Sie nimmt Partei für die «verlorenen kleinen Seelen», die mit Medikamenten ruhiggestellt werden, und für ausser Rand und Band geratene Kinder, die keine Chance auf eine Wiedereingliederung haben. Sie plaudert von ihren diesjährigen Ferien in der Türkei, in Kroatien beim Tanzen, in Uganda beim Gorilla-Sightseeing und erzählt von ihrem geplanten mehrmonatigen Südamerika-Aufenthalt. 

Sie überrumpelt uns mit der Frage, ob es eigentlich egoistisch wäre, wenn sie auch noch – in Ermangelung des erwarteten Prinzen – allein ein Kind hätte. Als sie unsere etwas ratlosen Gesichter sieht, fügt sie an: «Ihr könnt euch ja überlegen, was ihr dazu meint.» Mehr im Spass gebe ich zur Antwort, dass sie ihr umweltschädliches Vielfliegen mit dem Verzicht auf Kinder wenigstens kompensieren könne, da laut verschiedener Untersuchungen das Kinderkriegen auf die Klimabilanz die grössten Auswirkungen habe. Und merke, wie ich in den nächsten Tagen tatsächlich ihrer Frage nachhänge. Ich weiss es nicht. Mir würde wahrscheinlich der Mut dazu fehlen.

Fünf Tage später reisen die jungen Frauen mit Sack und Pack und Hund ab. Die vielen Jacken und Schuhe im Eingang sind weg, ebenso die Töpfe und Tiegel im Badezimmer, und das Gästezimmer wird wieder zu meinem vertrauten Arbeitszimmer. Auf die Frage nach dem egoistischen Kinderwunsch kamen wir zu keiner abschliessenden Antwort. In unserer Wohnung kehrt behagliche Ruhe ein. Wir geniessen sie – und vermissen gleichzeitig die lebendigen Diskussionen, das viele Lachen und die Teilhabe am Leben der jungen Menschen.


  • Was meinen Sie zum Wunsch, alleine ein Kind zu wollen? Finden Sie das egoistisch? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 20.11.2023

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