Landidylle 3. April 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Tagesprogramm und Dorfspaziergang.
Der neue Tag beginnt, die nächtlichen Dämonen sind verschwunden. Wir sitzen am Frühstückstisch und lesen die Nachrichten. Jede negative Schlagzeile nagt an meiner Zuversicht; bei jeder noch so kleinen positiven Nachricht überkommt mich Erleichterung. Nach einer Viertelstunde des Lesens und Schweigens legt mein Mann das Handy neben die Kaffeetasse. Ich weiss, was er jetzt sagen wird. Er sagt es seit bald drei Wochen: «Wir müssen noch das Programm für den heutigen Tag besprechen.»
Als hätten wir überhaupt noch ein Programm! Sein Turngrüppli und mein Hundegrüppli, seine Osteopathie und meine Physio, Termine beim Arzt, bei der Fusspflegerin, bei der Coiffeuse und selbst im Hundesalon – alles ist abgesagt. Dazu jegliche Konzert- und Kinobesuche, sämtliche Einladungen und alle Familien- und Restaurantbesuche. An unserem Frühstückstisch diskutieren wir noch genau zwei Programmpunkte: Wer geht wann mit dem Hund und was essen wir wann? Beide Punkte sind schnell abgehakt: Zum Mittagessen gibt es Pizza, am Abend Linsensuppe, und ich gehe am Nachmittag auf die grosse Hunderunde.
Alles scheint wie immer, als ich das Dorf hinunter spaziere: Um die neuen Einfamilienhäuschen spielen die Kinder Räuber und Polizist, in den Gärten wird gehackt und gesät, hin und wieder fährt ein Traktor mit einem Fuder Mist vorbei. Und doch ist es anders: Die Kinder spielen nur zu zweit, der Schwatz mit der Nachbarin über den Gartenzaun findet aus grösserer Distanz statt, und niemand mehr lehnt sich aus dem Traktorfenster, um mit mir ein paar Worte zu wechseln. Beim «Kreuz» ist das lustige Schild der Wirtin «I bi da» einer schwarzen Tafel am Strassenrand gewichen. «Take away» steht darauf.
Der Nachbar mit seiner Immunschwäche darf nicht mehr arbeiten; in einer alten Trainerhose werkelt er an seinem Auto herum. Unsere selbständig erwerbende Coiffeuse musste den Salon schliessen. Meine Hundefreundin bekam für ihre Grippesymptome keinen Termin bei der Hausärztin, und unser Sohn arbeitet manchmal fünfzehn Stunden am Stück, weil im Betrieb so viele Mitarbeitende fehlen. Eine Nachbarin darf ihren Mann im Pflegeheim nicht mehr besuchen. Dieser wartet jeden Tag – er wartet vergebens und versteht es nicht. Corona und seine Folgen sind überall, auch bei uns. Meine Landidylle ist keine Idylle mehr.
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