
Himmelsleiter 18. Februar 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Abschied von ihrer ältesten Freundin.
Ich sitze am Sterbebett meiner Basler Freundin und erzähle von früher. «Weisst du noch, im Frühling 1971? Ich kam frisch vom Seminar, hatte lange blonde Haare, trug Mini-Jupes und sollte die dritte Klasse mit über vierzig Schülerinnen und Schülern übernehmen. Ich erinnere mich jedenfalls genau an unsere erste Begegnung: Du kamst mit deiner Schulklasse von der Turnhalle zurück ins Schulhaus, trugst eine blaue Trainerhose, ein weisses Poloshirt, und dein rotbrauner Haarzopf baumelte über deine Schulter. Um den Hals hing die damals übliche Turnlehrer-Pfeife. Du strahltest mich aus deinen blauen Augen an und begrüsstest mich so herzlich als deine neue Kollegin, dass mir ganz warm ums Herz wurde.»
Das war der Anfang unserer Freundschaft. Die siebzehn Jahre ältere und erfahrene Lehrerin nahm mich unbedarfte Anfängerin unter ihre Fittiche. Sie hielt zu mir und half mir durch die Tücken unseres Berufs, die ich damals noch nicht kannte. Auch die Freizeit verbrachten wir zusammen: «Weisst du noch, die vielen Chilis con Carne, die dein Mann für uns gekocht hat? Und wie wir anschliessend Abende lang Rummy spielten? Während des Sommers splitternackt im nahen See badeten, um Mitternacht, wenn niemand die beiden Lehrgotten überraschen konnte? Wie wir in den jährlichen Skilagern den Beatenberg unsicher machten? Und wie du 1971 als erste Frau im Dorf die Erst-August-Rede halten durftest? Ich war so stolz auf dich!»
Meine Freundin gibt keine Antwort. Entspannt liegt sie da, ihre Augen sind geschlossen, der Mund steht offen, durch das schüttere weisse Haar ist die rosa Kopfhaut zu sehen. Wie klein sie ist, durchsichtig, auf dem Weg in eine andere Welt. Ich schiebe meine Hand unter die ihre und spüre, wie sich ihre Finger leicht um meinen Daumen schliessen. Aus dem CD-Player tönt leise Händels Messias, ihre Lieblingsmusik. Auf dem Nachttisch verströmt ein Vaporisator Feuchtigkeit und Lavendelduft. Ob allem Erzählen spüre ich meine grosse Dankbarkeit dieser ältesten Freundin gegenüber, meiner ehemaligen Mentorin und lebenslangen Vertrauten. Über ein halbes Jahrhundert waren wir verbunden. Jetzt trennen sich unsere Wege.
Von Zeit zu Zeit kommt eine Pflegerin ins Zimmer. Man bringt mir Kaffee, ein Sandwich, sagt, ich könne jederzeit klingeln. Auch ich werde begleitet. Als ich auf die Toilette gehe, stehen in der Nasszelle Rollator und Rollstuhl – man hat sie aus dem Zimmer weggeräumt. Im Korb des Rollators liegt ein Blatt, darauf sind Bilder von der Himmelsleiter abgebildet. Die Malereien stammen aus verschiedenen Jahrhunderten. Ob die Kopie von der Pfarrerin stammt, die regelmässig zu Besuch kam? Ich weiss es nicht, aber das Gleichnis muss meiner Freundin etwas bedeutet haben. Ich bin nicht bibelfest, also suche ich im Handy nach der Geschichte. Sie handelt von Jakob, der im Traum eine Leiter sieht, die von der Erde bis in den Himmel reicht. Ich schmücke sie aus, erzähle meiner stillen Freundin von den Engeln, die auf der Leiter hinauf und hinunter tanzen, die locken, schmeicheln und ihr die Hand reichen.
Längst hat der leichte Druck ihrer Finger um meinen Daumen nachgelassen. Die Atmung ist flacher geworden, manchmal setzt sie für einen Moment aus. Immer noch ist meine Freundin ganz entspannt. Von Zeit zu Zeit öffne ich das Fenster und lasse frische Luft herein. Als es finster wird, wird es Zeit für mich, zu gehen. Ich muss zurück ins Gürbetal. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und flüstere: «Alles ist gut. Die Himmelsleiter ist parat.»
Ich trete hinaus in die kalte Nacht, hellwach und getröstet von diesem intensiven Tag. Das Wort «Gnade» kommt mir in den Sinn: ein Geschehen, das über die sichtbare Wirklichkeit hinausweist. Und ein Gedicht von Rose Ausländer:
Vergiss
Deine Grenzen
Wandre aus
Das Niemandsland
Unendlich
Nimmt dich auf.
Am nächsten Vormittag bekomme ich ein Telefon aus dem Alterszentrum. Meine Freundin sei vor einer Stunde gestorben. Still, friedlich und ganz entspannt bis zuletzt.
- Haben Sie auch schon einen lieben Menschen am Sterbebett begleitet? Wie erging es Ihnen dabei? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»


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Das ist sooooo berührend. Meine Tränen fliessen und ich denke, wer soooo eine Freundin hat, wie Du eine bist, der ist gesegnet. Mein herzlichstes Beileid 💜 und Deiner Freundin auf ihrem weiteren Weg alles Liebe und Gute. Annemarie