Handyfieber 19. Oktober 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von schwindender Zuversicht und gewonnenen Stunden.
«Tuesch wieder coronänerle» fragt mein Mann, als ich bereits vor dem Frühstück das Handy zücke. «Coronänerle» – so nennt er die Zeit, die ich am iPhone verbringe und die neusten Entwicklungen an der Corona-Front verfolge. Bis die Tageszeitung nach dem Mittagessen in unserem Briefkasten liegt, habe ich online längst Bund und Spiegel, Blick und Watson durchforstet. Um nur immer auf die gleichen hochschnellenden Zahlen, auf ähnlich trübsinnige Zukunftsperspektiven und die immer gleichen Experten zu stossen. Von dramatisch, bedrohlich und schockierend ist die Rede, es sei fünf vor zwölf und alle müssten sich jetzt einen Ruck geben. Warum ich mir das in vierfacher Ausgabe und mehrmals am Tag antue, ist mir selber ein Rätsel.
Ich fasse es nicht, als ich auf dem Display eine Meldung habe: Drei Stunden und vier Minuten hätte meine durchschnittliche Bildschirmzeit letzte Woche betragen – pro Tag! Satte 23 Prozent mehr als in der Vorwoche. Von den kostbaren 24 Stunden eines Tages habe ich mehr als drei am Handy verbracht! Mit viel gutem Willen kann ich ein bisschen Zeit für einige Telefonanrufe, WhatsApp, SMS und ein paar wenige Mails abziehen. Aber auch so bleiben immer noch weit über zwei Stunden, die ich vor dem kleinen Bildschirm vertrottle.
Was könnte ich mit diesen zwei Stunden nicht alles anfangen! Ich könnte die kurzen und längeren Hunderunden in einen ganz langen Hundespaziergang ausdehnen. Ich könnte einmal mehr die Sauna nutzen, die unser Nachbarfreund im Hühnerstall eingebaut hat. Ich könnte unseren Schwedenofen einheizen und mich mit meinem spannenden Krimi und einem Glas Rotwein in den Sessel davor kuscheln oder den Kopfhörer aufsetzen und Beethovens Neunter lauschen. Ich könnte wieder einmal Briefe und Karten schreiben. Oder einen Nachtspaziergang machen und unter dem Sternenhimmel über das Leben sinnieren.
Es kann doch nicht sein, dass ich schon vor dem Frühstück bedrückt bin, nur weil ich auf dem Handy von schlechten Nachrichten zu trostlosen Meldungen scrolle. Dabei bin ich hin- und hergerissen zwischen Zuversicht und Mutlosigkeit. Der einst so feste Boden unter meinen Füssen schwankt. Und so lösche ich sämtliche News-Portale: kein Blick und kein Spiegel, kein Watson, kein Bund und kein «coronänerle» mehr – wenigstens für ein paar Tage, bis ich das Gleichgewicht wiedergefunden habe.
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