Georgette 9. Juni 2022
Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag. Heute: von Arm und Reich und einem unverhofften Wiedersehen.
Ich habe vergessen, dass es auf den Seychellen keine Ortsschilder gibt und auch kaum Wegweiser. So fahren wir aufs Geratewohl um die Insel, vorsichtig und immer schön links. Um die Sicherheitslinie scheint sich niemand zu kümmern, und vielfach geht der Strassenrand direkt in einen Graben über. Meine Freunde in Glacis, La Béolière oder La Misère zu finden, ist ein Kunststück: Es gibt auch keine Strassennamen oder Hausnummern.
In ihrer Grösse gleicht die Insel dem Gürbetal: Sie ist gegen dreissig Kilometer lang und fünf bis acht Kilometer breit. Fünf Passübergänge verbinden die Ost- und Westküste: Steil und kurvenreich steigen die Strassen an durch dichten Urwald, sattgrün, feucht, dämmrig und undurchdringlich. Einst kannte ich jedes Dorf, jede Häuseransammlung, die kleinste Bucht, und ich wusste um die höchsten Wellen, die schönsten Tauchgründe und die farbigsten Korallenriffe zum Schnorcheln. Jetzt bin ich auf Entdeckungstour.
Vor der Hauptstadt wurden künstliche Inseln aufgeschüttet, Ghettos für die unermesslich Reichen der Welt. Auch entlang der Strasse verbergen hohe Mauern und schmiedeeiserne Tore die Anwesen steinreicher Ausländer. Es gibt Luxusresorts, in denen eine Übernachtung mehrere tausend Euro kostet. Im Dschungel daneben verbergen sich armseligste Wellblechhütten. «Dog Walking» steht auf einem weissen Auto, das uns überholt. Ich kann es kaum fassen: Auch hier gibt es Hundebesitzer, die ihre Vierbeiner ausführen lassen. Daneben streunen abgemagerte Tiere durch die Strassen. Waren früher die Unterschiede zwischen Arm und Reich gross, ist die Kluft heute unüberbrückbar und verstörend.
Südlich des Flughafens lässt der Verkehr nach. Die Strände sind auch in Wirklichkeit so schön wie in den Werbeprospekten. Wie alle anderen auch, halten wir irgendwo am Strassenrand an, zwängen uns zwischen Palmen und Takamaka-Bäumen hindurch und spazieren über den weissen Sand. In einem kleinen Restaurant direkt am Strand essen wir ein Fischcurry. Mein kreolisch öffnet Tür und Herzen, wo Touristen bezahlen müssen, komme ich gratis hinein. Ich geniesse es, wieder zu diesen Menschen zu gehören.
Wir halten auch bei der «Mission Lodge», den Ruinen einer Missionsschule als Wiedergutmachung für die Kinder ehemaliger Sklaven aus dem 19. Jahrhundert. Die Mitarbeiterin an der Kasse schaut mich prüfend an. «Ou Seselwa?» fragt sie. Ich wehre lachend ab und sage ihr, dass ich vor vielen Jahren an der Primarschule in der Stadt unterrichtet hätte. «Miss Ursula?» ist ihre nächste Frage. Sie sei doch Georgette, Georgette Larue… Es folgt ein lautes und herzliches Wiedersehen, sie erzählt mir von ihren Erinnerungen an mich als junge, schlanke Lehrerin mit langen blonden Haaren. Aber sie kenne mich immer noch, so sehr hätte ich mich nicht verändert…
Wir tauschen die Natel-Nummern aus. Am Abend habe ich von ihr etwa zwei Dutzend WhatsApp-Nachrichten und Fotos auf dem Handy und eine Einladung zum kreolischen Essen mit ihren Kindern und Grosskindern am Samstag. Für den Montag hat sie bereits eine Klassenzusammenkunft «mit den Mädchen» organisiert. Ich bin froh, bleiben wir vier Wochen.
- Haben Sie früher auch in einem anderen Land gelebt und sind nach Jahren dahin zurückgekehrt? Berichten Sie uns doch, wie das Wiedersehen bei Ihnen war. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Wir würden uns freuen.
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