Freud und Leid 7. April 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Abschied und Hoffnung.
In der Druckerei sind die Danksagungskarten für meinen Papa bereit. Er starb am 23. Februar, als die Welt noch in Ordnung war. Zehn Tage später fanden die Urnenbeisetzung und die Abdankungsfeier statt – im grossen Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis, wie er es sich gewünscht hatte. Da zeigten sich schon düstere Wolken am Corona-Horizont: Im Eingang der Friedhofskapelle mussten sich die Trauergäste in eine Liste eintragen – mit Namen, Adresse und Unterschrift. Jeder Kugelschreiber wurde danach desinfiziert. Zum letzten Mal gab es Umarmungen, Küsse und Handschläge – aber das wusste ich damals noch nicht.
Die Inhaberin der kleinen Druckerei in der Nähe gibt mir die Schachtel mit den Karten unter der weit geöffneten Eingangstür und mit genügend grossem Abstand. Wie üblich, wechseln wir noch ein paar Worte – von den Frühlingsblumen, die man beim benachbarten Bauern selber pflücken könne, wenn doch schon alle Blumengeschäfte geschlossen seien. Auch die Frisuren sind ein Thema: Im Internet habe sie nachgeschaut, wie die Stirnfransen zu schneiden seien. Wir sind uns einig, dass jetzt halt wieder mehr telefoniert werde. Sie strahlt: Ein besonderes Erlebnis, wie sie es ohne Corona wohl nicht gehabt hätte, wolle sie mir doch noch erzählen:
Vor wenigen Tagen bekam sie einen Telefonanruf: «Hallo Meieli, hier ist Michi.» Sie musste überlegen; sie kannte zwei Michis. Aber es war keiner von beiden. Sie rätselte weiter, bis die Stimme am anderen Ende sagte: «Aber Meieli, du wirst dich doch wohl noch an deinen ersten Schulschatz erinnern!» Auf einen Schlag fühlte sie sich in die Zeit vor mehr als vierzig Jahren zurückversetzt, als sie jeweils ihre rote Jacke ins Fenster gehängt und damit Michi signalisiert hatte, dass sie am vereinbarten Treffpunkt im Dorf auf ihn warten würde. Sie lächelt bei der Erinnerung und meint schelmisch, jetzt hätten sie ja genug Zeit zum Mailen und Telefonieren …
Zu Hause öffne ich die Schachtel mit den Danksagungskarten. Papa lächelt auf dem Foto; fast ein wenig verschmitzt guckt er mich an. Ich spüre Längizyti in mir aufsteigen; ich vermisse ihn so sehr. Gleichzeitig überkommt mich ein Gefühl grosser Dankbarkeit: Wie sind wir doch froh, ist unser Papa noch rechtzeitig vor Corona gestorben. Erst jetzt realisiere ich, wie sehr der Text neben dem Foto – eine Liedzeile des Berner Liedermachers Fritz Widmer – Hoffnung macht auch in der jetzigen Zeit: «U ou wenn üsi Stimme jetz nümm so heiter klinge: Es chöme nöji nache, wo nöji Lieder singe.»
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