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Ferientraum 22. April 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von langjähriger Freundschaft und abgesagten Ferien. 

Der Telefonanruf vom Reisebüro ist gekommen: «Es tut uns leid. Alle Flüge von Emirates sind abgesagt.» Ich würde die kleine Insel im Indischen Ozean auch 2020 nicht wiedersehen – die Insel, auf der ich die wichtigsten Jahre zwischen zwanzig und dreissig verlebt hatte, leidenschaftlich verliebt gewesen war und meine beiden Kinder bekommen hatte. Auf der ich zwischen Kolonialzeit, Unabhängigkeit und Putsch Weltgeschichte im Kleinformat miterlebt hatte und den Wandel vom benachteiligten Drittweltland zu einer attraktiven Touristendestination verfolgen konnte. 

Nach Jahrzehnten hatte ich endlich meine einheimische Freundin wiedersehen wollen. All die Zeit über waren wir in Kontakt geblieben; zunächst mit Briefen auf hellblauem Luftpostpapier, später via Mail, heute meistens per WhatsApp. Dank ihr ist mir die Insel nah geblieben. Wenn ich die Augen schliesse, bin ich wieder dort: Ich spüre die Hitze der Tropensonne auf der Haut, höre den sintflutartigen Regen auf die Blechdächer prasseln, lausche dem nächtlichen Zikadenzirpen und Hundegebell, geniesse die Brise in Meeresnähe, schmecke das scharfe Fischcurry, ahne das quirlige Leben in der kleinen Hauptstadt und suche das Kreuz des Südens am Sternenhimmel.

Jetzt ist Corona überall. Auch auf meiner Insel. Die letzten Touristen werden ausgeflogen, der Flughafen und die Schulen sind geschlossen, Kreuzfahrt- und andere Schiffe legen keine mehr an. Das Haus darf nur noch für dringende Einkäufe, Arztbesuche und unaufschiebbare Arbeit verlassen werden – mit einem Passierschein. Die Tageszeitung wird eingestellt. Die Regierung garantiert die Löhne für die nächsten vier Monate. Meine Freundin schreibt: «Die Strände sind leer. Einfach leer.» Sie habe immerhin die Vögel, die täglich ihre Terrasse besuchen, die Katzen und den alten Hund. Und glücklicherweise genug Reis, um alle zu füttern.   

Meine Sorge um sie und um die Inselbevölkerung verdrängt die Enttäuschung über die abgesagte Reise. Von einer intensivmedizinischen Behandlung könnten sie nur träumen, die Frage nach Beatmungsgeräten erübrigt sich. Der Tod ist – ob mit oder ohne Corona – ohnehin ständig präsent. Meine Freundin ist 83 Jahre alt. Sie hat für mich ein Paket mit Dokumenten, Briefen, Zeitungsartikeln und Aufnahmen zur Inselgeschichte der letzten Jahrzehnte geschnürt, das sie mir im Notfall per Post schicken würde. Ich wünsche mir sehnlich, dass sie es mir noch persönlich übergeben kann.

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Beitrag vom 22.04.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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