Der vierte König 7. Dezember 2020
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Papiertürmen und der lebenslangen Suche nach dem Kind in der Krippe.
Immer seltener werden die Treffen mit Freunden. Ein paar wenige verlassen aus Angst vor dem Virus kaum noch ihre vier Wände. Andere sind in Quarantäne. Einige haben Schnupfen und Halsweh und wir verzichten auf ein Zusammensein. Mit unseren Freunden aus dem Nachbardorf haben wir einen Restaurantbesuch bereits zweimal verschoben: Einmal fühlte er sich nicht gut, das zweite Mal wartete sie auf das Corona-Testergebnis. Seit ein paar Tagen liegt auch meine langjährigste beste Freundin noch aus Seminarzeiten mit Covid-19 im Bett. Unsere regelmässigen Frauentreffen fallen dahin, die Sorge ist gross.
Und so habe ich lange Abende und Wochenenden vor mir – und hätte viel Zeit, seit Langem Aufgeschobenes anzupacken: Fotos sortieren, Pultschubladen aufräumen, Bücher ordnen … Doch mir fehlt der Elan. Immerhin habe ich schon das Haus weihnachtlich dekoriert! Schliesslich mache ich mich hinter die Beige Papier, die neben dem Telefontischchen in die Höhe wächst: Tageszeitungen, herausgerissene und kopierte Artikel, Magazine, Reklame und Modekataloge, die Gantrisch-Post, der Anzeiger, das Gemeindebulletin. Der Turm ist nur noch nicht umgekippt, weil er von einem Stuhl aufrecht gehalten wird.
Ich arbeite mich durch den Papierberg. Grosszügig schmeisse ich Zeitungen ins Altpapier, beginne mit ungelesenen Artikeln eine neue Beige und blättere auf die Schnelle durch die Magazine. An einem ganzseitigen Bild bleibe ich hängen: Es zeigt eine Kiste, gefüllt mit Stroh. Darin liegt nicht das Jesuskind, sondern ein Kreuz aus fahlblauem Neonlicht, eine Installation der Genfer Künstlerin Aline Kundig. Der Kommentar daneben verweist auf die Spannung zwischen dem unschuldigen Kind in der Krippe und dem erwachsenen Karfreitags-Rebellen. Und dass dieser Kontrast literarisch in der Geschichte vom vierten König verarbeitet werde.
Ein vierter König? Ich kenne nur Caspar, Melchior und Balthasar. Ich google und finde – neben dem Restaurant «Vierter König» in Basel – zahlreiche Varianten der immer gleichen Legende: Ein vierter König folgt dem Stern. Doch sein Reittier lahmt und er kommt viel zu spät nach Bethlehem. Er sucht weiter nach dem göttlichen Kind, er suchte es sein Leben lang. 33 Jahre später hat er es gefunden – am Kreuz auf dem Hügel von Golgatha. Ich weiss nicht, warum mich ausgerechnet diese Geschichte so besonders berührt. Doch ich ahne, was der Allerwelts-Weihnachtswunsch «Besinnliche Festtage» auch bedeuten könnte.
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