
Das zerbrechliche Leben 11. August 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Umgang mit der neuen Angst und Unsicherheit.
Was habe ich nicht alles über die Endlichkeit des Lebens geschrieben! Über seine Zerbrechlichkeit sinniert und diskutiert. Das Gedicht von Rose Ausländer zitiert, in dem sie das unverlässliche Leben feiert – gerade, weil es so unverlässlich ist. Über den eigenen Tod meditiert und meine Verbundenheit mit «meinen» Toten betont. Und jetzt das: Der Stich einer Hornisse, ein allergischer Schock, und meine Gewissheiten haben sich in Luft aufgelöst. Ich habe erfahren, wie unberechenbar das Leben ist. Das ist etwas anderes, als es nur zu wissen. Das macht mir zu schaffen – viel mehr, als ich nach meinem Spitalaufenthalt gedacht hätte.
Da überwogen die Freude und Erleichterung, dass ich noch lebe. Erst ein paar Tage später kam die Angst vor den kleinen und grösseren schwarzgelben Brummern, den Wespen und Hornissen, die mit einem einzigen Stich ihres winzigen Stachels mein Leben abrupt beenden können. Ich wage mich kaum noch auf die Laube oder die Terrasse, weil es überall summt und brummt. Das Blumengiessen überlasse ich meinem Mann. Ich achte darauf, dass kein Fenster offensteht, wenn das Licht angezündet wird: Hornissen sind auch nachtaktiv und werden davon angezogen. Nach zwei Wochen denke ich, dass es so nicht weitergehen kann. Ich will mir meinen Alltag nicht von diesen geflügelten Insekten bestimmen lassen.
Die Hausärztin mahnt zu äusserster Vorsicht. Sie rät, nicht mehr draussen am Gartentisch zu essen und lange, luftige Kleider zu tragen. Ich mache eine Liste, wie ich mich zusätzlich schützen kann: Vor den Fenstern lassen wir Insektenschutzgitter anbringen. Das Notfallset mit den Medikamenten und den beiden Adrenalinspritzen nehme ich immer mit, wenn ich das Haus verlasse. Ich nehme Kontakt auf mit dem Allergiezentrum Schweiz, bekomme wertvolle Informationen und mache online eine Schulung über den richtigen Umgang mit einem allergischen Schock. Anfang Dezember habe ich einen Termin bei einer Allergologin.
Ich versuche, mir gut zuzureden: Die Wespensaison dauert nicht länger als vier Monate, danach habe ich wieder Ruhe für mehr als ein halbes Jahr. Ich tröste mich damit, dass ich jetzt um meine Allergie weiss und mich vorsehen kann – ich stelle mir vor, eine Wespe hätte mich auf einer einsamen Wanderung gestochen! Ich bemühe Statistiken und Wahrscheinlichkeiten: Schweizweit sterben laut Allergiezentrum jährlich drei bis vier Menschen an einer Insektengiftallergie – warum sollte ausgerechnet ich zu ihnen gehören? Den letzten Wespenstich habe ich mir vor Jahren in einem Gartenrestaurant eingefangen – warum sollte ich von den Biestern plötzlich verfolgt werden?
Ob all der getroffenen Vorsichtsmassnahmen und Überlegungen werde ich tatsächlich ruhiger. Es liegt viel, aber nicht alles in meiner Hand. Der Rest ist je nach Perspektive Zufall oder Schicksal. Jedenfalls kann ich ihn «gsorgets gä». Was für ein schöner, alter Ausdruck! Im Wörterbuch Berndeutsch-Deutsch wird er übersetzt mit «als erledigt betrachten, sich nicht mehr um etwas kümmern müssen». Für mich, die ich gern alles vorausschauend plane, nicht ganz einfach. Aber ich lerne es, jeden Tag ein bisschen mehr.
Am Abend erfahre ich, dass die Schwiegermutter unseres jungen Nachbar-Freunds auf einer Bergwanderung tödlich verunglückt ist. Und wieder kommt mir das Gedicht von Rose Ausländer in den Sinn:
schweben mit dem Vogel
mit der Sonne leuchten
rollen mit der Erde
mit euch allen feiern
das unverlässliche Leben
- Wie gehen Sie mit dem Wissen um, dass der Tod jäh eintreten kann und das Leben unberechenbar ist? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»


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