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Dankbarkeit 7. März 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von den kleinen Wundern des Alltags.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich sitze im Zug nach St. Gallen, unterwegs zu einem Interview. Ich mag lange Zugfahrten. Schon in meiner Kindheit – mein Vater arbeitete bei den SBB – war das Zugabteil unser Spiel-, Ess- oder Schlafzimmer. Später wurde es zu meinem Büro. Seit ich pensioniert bin, sitze ich oft einfach nur da und schaue in die vorbeiziehende Landschaft: Noch kahle Wälder, brache Felder, vereinzelte Häuser, Dörfer, grössere Bahnhöfe: Wil, Uzwil, Flawil … Der Wanderweg unterhalb des Bahntrasses folgt einem Bach, eingemummte Spaziergängerinnen schauen ihren herumtollenden Hunden zu. Eine fahle Sonne scheint durch den Nebel und verwandelt die Gegend in eine mystische Welt. Wie schön!  

Plötzlich kommt mir ein Interview in den Sinn, das ich während der Corona-Zeit mit der Altersforscherin Pasqualina Perrig-Chiello geführt habe. Sie redete von Charakterstärken, die helfen würden, durch diese schwierige Zeit zu kommen: Hoffnung, Gelassenheit, Neugier, Humor, Nachsicht, Weitsicht … Solche Charakterstärken könne man trainieren, meinte die Fachfrau, zum Beispiel Dankbarkeit: «Es gibt so vieles, für das wir dankbar sein können. Wir können sie üben, indem wir jeden Tag mindestens zwanzig Mal für etwas danken.» Zwanzig Mal schien mir damals viel. Ich hatte weder die Geduld noch nahm ich mir die Zeit, darüber weiter nachzudenken. 

Während mich der Zug St. Gallen entgegen fährt, denke ich an die kleinen Wunder des Alltags, die ich so selbstverständlich hinnehme: Die Eisblume vor einigen Wochen an meinem Dachfenster. Solch filigrane Kunstwerke hatte ich zuletzt in meiner Kindheit gesehen. Oder die Amsel, die seit kurzem wieder im Baum vor dem Schlafzimmer den Morgen begrüsst. Meine verspätete Amaryllis, die langsam Blüte um Blüte öffnet. Der lange Brief von meinem heute 99-jährigen ehemaligen Chef. Der Blick aus den dunklen Augen der Kleinen, der mich ganz weich werden lässt. Die friedliche Landschaft, die am Fenster vorüberzieht. Der Lokführer, der mich sicher ans Ziel bringt. Mein Mann, der mich am Abend mit einem feinen Nachtessen verwöhnen wird.

In St. Gallen treffe ich für einen nächsten Zeitlupe-Artikel die Musik- und Psychotherapeutin Monika Renz. Im Interview frage ich nach ihren Erkenntnissen als Sterbeforscherin und -begleiterin. Helfend in der letzten Lebensphase sei auch Dankbarkeit, sagt sie: Die schönen Momente im Alltag wahrnehmen und dafür dankbar sein.

Da ist es wieder, das Zauberwörtchen. Natürlich möchte ich lieber für den Weltfrieden dankbar sein können. Oder für die Rettung des Planeten. Aber das scheint zurzeit ein Ding der Unmöglichkeit. Vielleicht muss ich mich mit kleinen Schritten begnügen. Und den Anfang bei mir selber machen. Auf der Heimfahrt geht mir ein Gedicht der deutschen Lyrikerin Hilde Domin durch den Kopf: 

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten. 


  • Wie halten Sie es mit der Dankbarkeit? Gibt es Dinge oder Ereignisse, für die Sie sich Tag für Tag bedanken? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns darüber berichten oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 07.03.2023

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