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Blitz und Donner 9. September 2024

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der uralten Angst vor Gewittern.

Es ist Abend. In der Ferne rumpelt es. Und wie so oft in den vergangenen Hitzetagen hoffe ich, dass sich das näherkommende Gewitter nicht gerade über unserem Dorf entlädt. Der Hund ist unruhig. Er drückt sich an mein Knie, zittert und stupst meinen Arm mit der Nase an. Ich hab es geschafft – wie bei jedem unserer früheren Hunde – dass sich meine Angst vor Gewittern auch auf ihn überträgt. Sobald die ersten Blitze über den Himmel zucken, das erste Donnergrollen zu hören ist, sucht er meine Nähe. Als ob ich ihm helfen könnte. Ausgerechnet!

Ich weiss, woher meine irrationale Angst vor Blitz und Donner kommt: von meinen Oberaargauer Grosseltern väterlicherseits. Sie betrieben ein kleines «Heimet» mit drei Kühen, einem Kalb, zwei Schweinen, ein paar Hühnern und einem Einachser der Marke Bucher. Und einer grossen Angst vor Gewittern. Ich sehe immer noch den besorgten Blick meines Grossvaters bei der Feldarbeit, wenn am Himmel schwarze Wolken aufzogen und fernes Donnergrollen zu hören war. Die Hektik und Hoffnung, das Fuder Heu doch noch trocken nach Hause zu bringen. Und wie es an «Heinzen» aufgehängt oder die Garben zu Puppen zusammengestellt werden mussten, wenn keine Zeit mehr blieb und das Unwetter schon bald losbrach. 

In der Nacht wurde ich jeweils geweckt. Schlaftrunken musste ich die Sonntagskleider und Sonntagsschuhe anziehen. Ich durfte nicht auf den Steinofen sitzen. Meine Tante zog den Stecker des Radios und des elektrischen Küchenherds heraus. Grossmutter machte die Militär-Taschenlampe mit dem roten und grünen Farbschieber parat, falls der Strom ausfallen sollte. Grossvater ging in den Stall und löste die Ketten der Kühe. Ich zuckte bei jedem Blitz zusammen und zählte die Sekunden bis zum Donner. Atmete auf, wenn ich bis drei zählen konnte. Oder wenn die Zeit reichte, das Kreuzzeichen zu machen. So hatte ich es von meiner Walliser Mama gelernt. Wenn Blitz und Donner zusammenfielen, durchflutete mich eine Panikwelle. 

Einmal waren wir im VW-Käfer meines Onkels unterwegs, als plötzlich die Strasse gesperrt war. Ein Bauernhaus stand in Flammen. Ich sehe mich als kleines Mädchen auf dem Hintersitz an der Fensterscheibe kleben: Ich konnte den Blick nicht abwenden von den weissen Hühnern, die aufgeregt flatternd und gackernd auf der Flucht vor dem Feuer zwischen den alten Obstbäumen in der «Hostet» herumrannten. Von da an träumte ich immer wieder von brennenden Häusern, viel später auch von unserem jetzigen Haus. Es war immer ein Alptraum.

Mein Mann lacht mich aus. Er geniesst das nächtliche Himmelsspektakel, während ich die Augen zusammenkneife und mir die Ohren zuhalte. Er pflegt zu sagen, dass noch nie ein Blitz in unser über dreihundertjähriges Haus eingeschlagen habe. Für mich erhöht das nur die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann soweit sein muss. Kurz nach unserer Hochzeit installierten wir einen Blitzableiter. Die Angst ist deswegen nicht kleiner geworden. Nach all den Jahrzehnten steigert sie sich immer noch zur Panik, wenn Blitz und Donner gleich über unserem Dorf losbrechen. 

Ich frage mich, welche weiteren bewussten und unbewussten, positiven und negativen Prägungen in meinem Rucksack stecken, den ich seit Kindertagen mit mir herumtrage. Frühe Kindheitserfahrungen scheinen jedenfalls immun gegen vernünftige Erwachsenen-Argumente zu sein. 


  • Fürchten Sie sich auch vor Blitz und Donner? Oder sind Sie von diesem Himmelsspektakel fasziniert? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 09.09.2024
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
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