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Auszeit 6. Dezember 2021

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einem besonderen Geburtstag mit einem kulinarischen Höhenflug.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Lang hatte ich mir überlegt, was ich meinem Mann zum 65. Geburtstag schenken wollte. Etwas ganz Besonderes musste es sein, etwas, das man nur einmal im Leben macht. Im Gegensatz zu fast allen anderen Geburtstagen ist der 65. ja nicht einfach eine Zahl. Er markiert einen Lebensübergang – raus aus dem Berufsleben und hinein in die Pensionierung. Statt eines Lohns kommen Ende Monat AHV und Rente. «Transitionen» nennt die Fachwelt solche Umbrüche im Verlauf eines Lebens. Sie würden oft mit Unsicherheit und manchmal auch mit Angst einhergehen. Obwohl mein Mann gegen dieses Expertenwissen resistent ist, soll er doch einen unvergesslichen Geburtstag erleben.

Die Idee kam mir wenige Tage vor seinem Geburtstag im vergangenen Mai: Ich würde ihm, weil er mich seit Jahrzehnten bekocht und auch nach meiner Pensionierung Ende Jahr den Kochlöffel nicht aus der Hand geben will, ein Nachtessen bei Spitzenkoch Andreas Caminada schenken – drei Michelin-Sterne, neunzehn Gault-Millau-Punkte, seit 2011 ununterbrochen auf der Liste der fünfzig weltbesten Restaurants. Meine Freude über die gelungene Geburtstagsidee wurde etwas getrübt, als ich hörte, dass Caminadas Restaurant für das nächste halbe Jahr ausgebucht sei. Erst jetzt ist es soweit: Mit Zug und Bus fahren wir nach Fürstenau ins Schloss Schauenstein.

Um es vorweg zu nehmen: Der Abend ist perfekt. Apero und Kaffee gibt es ums Kaminfeuer im oberen Stock, in der ersten Etage wird das Essen serviert. Die weiss gedeckten Tische stehen weit auseinander, beleuchtet nur von Hängelampen, die jedes Tischrund einzeln ausleuchten. Schon die exquisiten Aperohäppchen sind ein Augenschmaus und eine Gaumenfreude. Danach folgen neun Gänge, angerichtet in über einem Dutzend Schälchen, Tellerchen und Tässchen: keine Luxusprodukte, sondern regionale Gemüseköstlichkeiten, Süsswasserfisch und Hirsch aus heimischer Jagd – jedes Gericht zu einem Kunstwerk arrangiert und dekoriert. 

Mein Mann schwebt im kulinarischen Himmel. Er bewundert die dargebotenen Speisen, er riecht ihren Duft, schmeckt jeden Bissen. Das Sauerkraut ist nicht einfach Sauerkraut, es ist eine Wolke mit einem Hauch von Speck, die den vergorenen Weisskohl ahnen lässt. Mein begeisterter Hobby- und Alltagskoch weiss das Können und die Kreativität des Spitzenkochs weit mehr zu würdigen als ich, die ich das feine Essen einfach geniesse. Erst um Mitternacht wird die Tafel aufgehoben. Wir haben genug gegessen. Die handverlesenen Friandises zum Kaffee samt dem dazugehörigen Geburtstagstörtchen lassen wir uns gern einpacken. 

Auf dem Heimweg schwelgt mein Mann in Erinnerungen. Caminada würde in der Champions-League kochen, während er sich höchstens in einem Grümpelturnier bewege, bewundert er den Chef. Ich hingegen realisiere, wie gut mir diese kurze Auszeit getan hat. Weg vom Alltag, weg von Corona. Ich beschliesse, mir wieder mehr solche Auszeiten zu gönnen. Am Sonntag besuche ich ein Gospelkonzert – meine Seelennahrung im Advent. Als ich zurückkomme, steht das Nachtessen auf dem Tisch: «Linsencurry Caminada».


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Beitrag vom 06.12.2021

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