
74! 22. Dezember 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Glück und Dankbarkeit und einem weiteren Geburtstag.
An meinem 74. Geburtstag stehe ich auf dem Dach des Hauses unserer Tochter in Marokko. Die untergehende Sonne taucht mich in goldenes Abendlicht. Ich habe den kuschligen Schal mit den kleinen marokkanischen Stickereien umgelegt, den mir früher am Tag mein Mann und die Tochter geschenkt haben. Rundum erstreckt sich die karge Landschaft, offen und weit bis zu den Hügeln am Horizont. Spärlich gedeihen vereinzelte Argan- und Olivenbäume. Flache Häuser, umgeben von schützenden Mauern, verschmelzen mit der braunen Erde. Ein Wasserturm und das weisse Türmchen der nächsten Moschee heben sich von der Umgebung ab. Hundegebell und das verspätete Kikeriki eines Hahns sind zu hören.
Ich bin 74. Wie Perlen auf einer langen Schnur reihen sich meine Lebensjahre aneinander. Einige leuchten, sind makellos schön und schimmern in allen Farben. Andere sind zerkratzt, glanzlos, abgeblättert oder haben gar eine Delle. Das Leben hat seine Spuren hinterlassen. Trotzdem ist mir die Kette kostbar. Auf keine einzige dieser Jahresperlen, mag sie noch so beschädigt sein, möchte ich verzichten müssen. Der einzige Wermutstropfen: So viele Perlen werde ich auf meiner Kette nicht mehr auffädeln können. Vielleicht noch ein paar, vielleicht noch mehrere, vielleicht nicht einmal mehr eine.
Das Gefühl, dass dieser Geburtstag ein besonderer Geburtstag ist, überwältigt mich ganz plötzlich. Ein halbes Jahr ist es her, dass mich eine Hornisse gestochen hat und ich den allergischen Schock nur mit viel Glück und Menschen zur rechten Zeit am richtigen Ort überlebt habe. Wie sehr hat sich mein Leben seither verändert! Statt nur darüber zu lesen oder von anderen zu hören, habe ich selber erfahren, wie schnell plötzlich alles anders sein kann. Dieses Gefühl, dem Schicksal ausgeliefert zu sein, macht mir einerseits Angst. So kann es vorkommen, dass ich geborgen im Bett liege, aus dem Dachfenster in den Sternenhimmel schaue und mich vor dem nächsten Tag fürchte: dass etwas passieren könnte, das meine behagliche Welt auf den Kopf stellt.
Andererseits – und das wiegt alle Angstgefühle auf – ist da dieses Wissen, dass nichts mehr selbstverständlich ist. Jeder einzelne Tag ist ein Geschenk. Das fragile Leben hat gerade wegen seiner Zerbrechlichkeit eine neue, unerwartete Tiefe bekommen hat und ist unendlich kostbar geworden. «Carpe Diem» ist keine gedankenlos dahingesagte Floskel mehr. Ich nutze jeden Tag. Ich nutze ihn nicht nur, ich geniesse ihn, ich koste ihn aus.
An all das denke ich, während ich in Marokko auf dem Dach des Hauses unserer Tochter stehe – glücklich und dankbar, dass ich meinen 74. Geburtstag überhaupt feiern kann. Und so fädle ich auch diese Perle auf meine Lebenskette. Sie hat eine arge Bruchstelle. Ich möchte sie trotzdem nicht missen.
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