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Mutig sein zahlt sich aus

Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: eine Kurzgeschichte von Susan Kunz.

Sehr geehrtes Zeitlupe-Team

Wäre das eine motivierende Geschichte für Ihr Online-Portal? Meine Devise lautet: «Alles Ausschöpfen, zu dem man im Alter noch fähig ist!» Das ist viel mehr, als wir glauben. Obs klappt, weiss man aber erst, wenn man es probiert hat. Und ich habs probiert.

Tatsache ist, dass Mutigbleiben im Alter das Leben sehr bereichern kann.

Ich freue mich auf Feedbacks. Liebe Grüsse aus Weggis, Susan Kunz

su.kunz@bluewin.ch


Mit den auf dem Skywalk eroberten Rentnerschueh «vo Bassersdorf uf Weggis zue»

Ich konnte meinen Lebenstraum verwirklichen, der da war, meine noch verbleibenden Jahre an einem See zu geniessen. Zwei Jahre lang reiste ich (ab 80) deswegen per Zug zum Bodensee, bewanderte dessen Ufer (ca. 200 Kilometer), keuchte steile, lange, steinerne Holztreppen hinauf, um in schöne oder unschöne Behausungen zu gucken. Alles erfolglos.

Eines Tages haute ich resigniert in die Laptoptasten: «Alterswohnung gesucht in der ganzen Schweiz!» Was ich dann zu sehen bekam, hat mich fast vom Sitz gehauen. In Grosssbuchstaben erschien vor meinen Augen folgendes Inserat:  

«Zu vermieten 1,5 Zi-Whng. im Traumdorf Weggis!»

Ich vegass fast zu atmen, als ich das beiliegende Panorambild sah. «Meine Güte», ging es mir durch den Kopf. «Wo liegt Weggis denn genau?» Klar – am Vierwaldstättersee! Wie man dahin kommt, verriet mir dann die SBB: Im Voralpenexpress, dem «goldigen Zug meines Herzens», fuhr ich ja oft von St. Gallen nach Küssnacht!

Ich genoss daraufhin eine wunderbare Reise im Zug durch die halbe Zentralschweiz und landete direkt in Küssnacht/SZ, der «Heimat» des diktatorischen Landvogt Gessler. Dass nur die drei Dörfer, Greppen, Weggis und Vitznau im Kanton Luzern liegen und eine Enklave bilden, das war meine Bildungslücke.

Als Flachländerin aus Zürich war die «Schleudersitzfahrt» im Bus nach Weggis dann aber eher gewöhnungsbedürftig – es haute mich fast wortwörtlich vom Sitz. Die Strasse von Küssnacht bis Brunnen führt über weite Strecken dem See lang. Dabei gilt es aber viele enge Kurven zu bewältigen, die dem Rigi gehören. (Haha!) Heute weiss ich: Die Busfahrer fahren nicht zu schnell hier, sie fliegen nur zu tief! So bin ich rassig und (sogar) heil in Weggis angekommen.

Erst galt es, ein bisschen den Rigi zu bezwingen und schon stand ich vor dem Objekt meiner Träume. «Oje, viertes Stockwerk! Das wusste ich vorher schon, aber dass vier Stöcke so weit oben sind, das ist für eine phobiegestörte Anti-Liftfahrerin (seit 24 Jahren!) eine grosse Herausforderung.

Was für eine Aussicht

Um die Wohnung zu besichtigen, musste ich aber da hinauf. Eine junge Frau erkannte mein Problem und lief mit mir die Treppen hoch. In der Wohnung angekommen, schlug mein Herz im Radetzkymarsch! «Mein Gott, wo gibt es denn so etwas? Das muss das Vorzimmer zum Himmel sein! Dieses Wahnsinns-Panorama! Der Blick über den funkelnden See, der silbern darüberziehende Nebel, die vierlagigen hell-bis dunkelgrünen Bergmassive.»

Unvorstellbar schön. Mir blieb fast der Atem weg. Mit zitternden Beinen näherte ich mich sogar einen halben Meter dem Balkongeländer. Mit denselben zitternden Beinen und dem Radetzkymarsch im Herzen verliess ich dann dieses Bijou wieder (natürlich über die Treppen). 

Benommen stolperte ich zum Schiffssteg hinunter und bestieg das Schiff nach Luzern. Gesehen von der Umgebung habe ich auf der Fahrt fast nichts. Ich stellte mir so viele Fragen, stierte wohl nur vor mich hin. Sein ganzes Leben mit 82 Jahren umkrempeln, in eine unbekannte neue Umgebung ziehen, weg von den Kindern, Freunden und Bekannten, sich neu orientieren müssen, fällt einem doch einiges schwerer als in jungen Jahren. «Was hast du dir da eingebrockt Susan? Aus dieser Nummer kommst du nie mehr heraus.»

Ich habe mich in Weggis in diese Panoramawohnung verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick! Punkt. «Das schläckt kei Geiss ewäg!» Aber auch nicht, dass ich dann täglich den vierten Stock mehrmals erreichen muss, trotz meiner Angst vor dem Liftfahren. Was nun? Die herrliche Schiffahrt auf der dampfenden «Luzern» hat alle meine Zweifel  weggeschaukelt.

Die Hängebrücke als Mutprobe

Weggis, ich komme! Aber ich muss noch an mir arbeiten, um meine Liftphobie loszuwerden. Zweifelsohne haben sich da schon andere dieser Problematik angenommen. So auch mein fantasiereicher «Altmädelsportclub». «Susan muss eine Hängebrücke bewältigen», hiess es da. «Auf  gehts, von Zürich per Zug und Gondel auf den Mostelberg. Dort hat ein Brückenbauer einen Skywalk hingebaut.»

Während der Zugfahrt dorthin wurde mir offenbart, dass ich diese Hängebrücke bezwingen müsse. Mit einem Riesenlamento erklärte ich den Frauen, dass mich keine 1000 «alte Guetzli» über dieses Teufelswerk kriegen  würden. Die baumelnde Fussgänger-Hängebrücke, die längste Europas, ist 58 Meter hoch, 374 Meter lang und führt über das wildromantische Lauitobel.

Plötzlich befand ich mich vor diesem Werk. Zuerst einmal kurz mit dem Fuss antippen, um herauszufinden, ob sie hält, was sie verspricht. Dann den andern Fuss – und schon stand ich darauf. Eine «Altweiber-Hängebrückentherapeutin» drückte sich an mir vorbei und breitete die Arme aus, um sich links und rechts am Geländer festzuhalten. Wie ein Roboter tat ich dasselbe und los gings. Ich lief und lief – wie hypnotisiert – stolpernd die ersten 187 Meter hinter der «Therapeutin» her. Diese führten über einen grünen hohen Wald, das war noch zum Aushalten.

Dann war der Wald zu Ende und unter der Brücke war nur noch ein gähnender, dunkler Abgrund. Hinter mir vernahm ich ein Träppeln und Geflüster. «Da haben wohl einige zur Rückkehr geblasen», dachte ich. «Umkehren, nie. Dann schaukelt das Ding ja noch mehr. Also los!» Den Kopf im Nacken, mit zittrigen Beinen und sturem Blick zum Himmel tapste ich vorwärts.

In Mathe war ich nie gut, aber es reichte gerade noch, um auszurechnen, wie meine Chancen stehen. «Susan», sagte ich mir, du hast 187 Meter vor und 187 Meter hinter dir. Die Brücke wird das Schaukeln nicht aufgeben für dich, auch wenn meine Beine weiterzittern. Also: Gring abe u seckle!» 

Es war eine wunderbare mentale Erfahrung. Ich war so stolz auf mich, als ich die Brücke bewältigt hatte. Die Traumwohnung im vierten Stockwerk mit der Traumaussicht, bezwinge ich seither lächelnd und täglich viele Male.

Mutig sein im Alter kann unser Leben also sehr bereichernd sein. Ob Mann oder Frau es wirklich schafft, weiss man erst er oder sie es probiert hat! 

Ich weiss es jetzt: «So chunnt mer sogar «Vo Bassersdorf uf Weggis zue!»

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Beitrag vom 29.09.2021

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