Noch weiss niemand, wie sich die aktuelle Krise auf die Generationenbeziehungen auswirken wird. Generationenforscher François Höpflinger macht Hoffnung und plädiert für finanzielle Solidarität vonseiten wohlhabender Seniorinnen und Senioren.
Interview: Usch Vollenwyder
Die geltenden Einschränkungen wegen des Coronavirus sind streng – und alles zugunsten der älteren Bevölkerung? Es gibt sowohl Junge als auch Ältere, die damit Mühe haben. Trotzdem müssen sich alle an diese Regeln halten, auch diejenigen, die sagen, sie hätten keine Angst vor dem Tod: Es gilt, die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen. Das sind nicht nur alte Menschen, sondern auch jüngere mit bestimmten Vorerkrankungen. Vulnerabilität – so heisst das Fachwort für besonders verletzliche, fragile Personen – ist vielschichtig und bezieht sich nicht nur auf eine bestimmte Generation.
Es zeigte sich, dass gerade Menschen über 65 besondere Mühe hatten, sich mit den Einschränkungen zu arrangieren. Warum?Die gesunden, aktiven Jungseniorinnen und -senioren fühlen sich subjektiv gut. Haben sie keine Vorerkrankungen, verfügen sie in der Regel auch über ein gutes Immunsystem. Sie sehen sich von der Krankheit weder bedroht, noch fühlen sie sich alt.
Und – sind sie mit 65 tatsächlich noch nicht alt? Eine Altersgrenze von 65 Jahren ist eine chronologische Definition – und die grosse Mehrheit der 65- bis 79-Jährigen fühlt sich tatsächlich noch nicht alt. Die heutige Wissenschaft unterscheidet die Zeit nach der Pensionierung in ein drittes und ein viertes Alter. Zum vierten, hohen Alter – ungefähr ab achtzig – gehören fragile Menschen, bei denen sich altersbezogene Beschwerden, Mehrfacherkrankungen und Sinneseinschränkungen häufen. Von chronischen Erkrankungen können natürlich auch schon jüngere betroffen sein. Viele Jungsenioren geniessen ihre späten Freiheiten – gleichzeitig sind sie es, die Freiwilligenarbeit leisten, Enkelkinder hüten, in Nachbarschafts- und Generationenprojekten engagiert sind.
Also trifft sie die Einschränkungen besonders hart? Gefordert sind tatsächlich die Nicht-Alten. Die ihnen auferlegte soziale Einschränkung liegt quer zu allem, was die moderne Gerontologie – auch Pro Senectute – für ein gesundes Alter empfiehlt: soziale Kontakte, gemeinsame Aktivitäten, geistige Tätigkeiten, körperliche Betätigung in Gruppen, generationenübergreifendes Engagement … Während die jüngeren Generationen trotz Lockdown noch in Arbeit und Ausbildung eingebunden sind und berufliche und familiäre Verantwortung tragen, mussten die jungen Alten diese Aktivitäten von einem Tag auf den anderen einstellen.
Was raten Sie ihnen? Sie müssen andere Formen der Beschäftigung finden: Wandern höchstens zu zweit oder in gebührendem Abstand, Morgenübungen daheim, ein Fitnessgerät in der Wohnung, Musik auf dem Balkon und vieles mehr. Grössere Sorgen machen mir die einsamen alten Menschen. Wenn sie in einer Altersinstitution sind, befinden sie sich in einer fachlich begleiteten und umsorgten Umgebung. Für Alleinlebende ist es wichtig, Kontakt mit der Umwelt zu halten. Das geht per Telefon, via Mail, man kann Briefe schreiben. Innerhalb der Familie ist der Kontakt über die Generationen hinweg am einfachsten: Kinder können für ihre Grosseltern zeichnen, ihnen Audionachrichten schicken oder schreiben – und umgekehrt. Allerdings ersetzen virtuelle Kontakte auf die Dauer menschliche Nähe nicht, auch nicht bei den Jungen.
Kann unsere Vier-Generationen-Gesellschaft gestärkt aus dieser Ausnahmesituation hervorgehen? Eine Gesellschaft kann die Erfahrung machen, dass sich eine Krise gemeinsam bewältigen lässt. Die Solidarität zwischen den Generationen wird vielleicht sogar aufgewertet, wenn man realisiert, wie wichtig zum Beispiel die Kinderbetreuung durch die Grosseltern, die Arbeit vieler Pensionierter in der Öffentlichkeit oder die unzähligen Freiwilligenengagements für die gesamte Gesellschaft sind. Damit das gelingt, dürfen die aktuellen Massnahmen jedoch nicht länger als einige Wochen dauern. Und definitiv müssen die wirtschaftlichen Folgen, die vor allem die jüngeren Generationen zu tragen haben, aufgefangen werden.
Das klingt alles andere als einfach. Wie schafft man das Der Staat ist gefragt. In der Schweiz haben wir gute Versicherungsleistungen mit der Möglichkeit zu Kurzarbeit oder bezahlten Krankheitstagen. Trotzdem werden viele Betriebe und selbstständig Erwerbende massiv unter Druck kommen. Die Hilfsmilliarden des Bundes zur Unterstützung der Wirtschaft sind dringend notwendig. Es gibt noch weitere Möglichkeiten: Man könnte beispielsweise eine vorübergehende Erbschaftssteuer einführen.
Wie kann die ältere Generation ihre Solidarität mit den Jungen ausdrücken? Da ihre Renten weitgehend gesichert sind und manche – wenn auch nicht alle – Seniorinnen und Senioren über gute finanzielle Ressourcen verfügen, könnten sie sich finanziell für die Opfer der Krise einsetzen und zum Beispiel die Glückskette unterstützen, die zu Spenden für Betroffene aufruft. So können Menschen im Rentenalter ihre Solidarität zur jüngeren Generation ausdrücken. Aus Studien weiss man, dass auch in normalen Zeiten ältere Menschen ein soziales Engagement – wenn sie diesem selber nicht nachkommen können – oft und gerne über Finanzen kompensieren.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft? Ich habe keine Angst. Wir haben ein gutes Gesundheits- und Sozialsystem. Die Mortalität ist bei dieser Pandemie auch weit weniger hoch als bei Ebola, der Spanischen Grippe oder bei Sars. Aber ich halte mich an die Regeln: Ich mache Homeoffice, wir hüten zurzeit unsere Enkel nicht, beschränken unsere sozialen Kontakte und gehen nur zu zweit wandern. ❋
François Höpflinger (72)
em. Prof. Dr. phil, leitete von 1999 bis 2008 die Forschungsdirektion des Universitären Instituts «Alter und Generationen (INAG) in Sitten und amtete bis 2013 als Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. Heute forscht und berät er zu Alters- und Generationenfragen. François Höpflinger ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und vierfacher Grossvater. Mehr Informationen unter hoepflinger.com
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