Tierisch alt
Tiere altern nach ureigenen Regeln. Manche Arten können sich Menschen zum Vorbild nehmen. Sie weisen Seniorinnen und Senioren wichtige Aufgaben zu – und profitieren im Gegenzug von deren Wissen.
Text: Roland Grüter
Schon vom Grossmutter-Syndrom gehört? Wissenschaftler bezeichnen damit ein Phänomen, das sie vor allem bei Tierarten mit ausgeprägten sozialen Konzepten beobachten. Darin geben alte Tiere ihr Wissen an die nächsten Generationen weiter und führen ihre Lebensgemeinschaften sogar an. Meist handelt es sich dabei um Weibchen, die in matriarchalisch organisierten Gruppen leben. Entsprechende Spezies, die das Know-how des Alters schätzen, sind etwa Elefanten, Orcas, Grindwale, Wölfe und Lemuren. Sie zeigen: Wenn Junge mit Alten zusammenspannen, ist das für beide Teile vorteilhaft.
Der britische Evolutionsbiologe William Hamilton beschrieb 1966 das Grossmutter-Syndrom als Erster. Er versuchte zu klären, welche Aufgaben Tiere nach ihrer fruchtbaren Phase zu erfüllen haben. Denn die Natur investiert in aller Regel nur dann in Individuen, wenn sie der Vermehrung und Arterhaltung dienen. Die meisten Tiere werden im Alter aber unfruchtbar und verlieren dadurch ihre naturgegebene Berechtigung für ihr Dasein. Das zeigen unter anderem der Pazifische Lachs, der Amerikanische Aal oder die Opferspinnen. Kaum haben sie ihren Laich oder ihre Eier abgelegt, sterben sie. Welche Rolle weist die Natur also betagten Tieren zu, die ihre Gene nicht mehr an die nächste Generation weiterreichen können?
Für die meisten Männchen stellt sich diese Frage erst gar nicht. Deren Leben ist kräftezehrend, sie müssen sich ständig Widersachern stellen, ihren Rang und damit die Möglichkeit sichern, Samen zu streuen. Das zehrt an den Kräften und rafft die Männchen vieler Arten frühzeitig dahin. Exitus.«In die Weibchen aber investiert die Biologie weit mehr», sagt Robert Zingg, seit über 25 Jahren Kurator des Zoos Zürich: «Diese tragen die Jungen nicht nur aus, sie ziehen sie auch bis zur Selbstständigkeit auf.»
Dieser Wissensschatz ist für die Arterhaltung wichtig, also bemüht sich die Natur, ihn abzusichern – und lässt Weibchen bestimmter Arten besonders alt werden, damit sie ihre Erfahrungen an die nächstfolgende Generation weitergeben können. Tier-Omas kümmern sich um die Enkel, beschützen sie vor Feinden und garantieren den Kleinen damit eine gesunde Entwicklung. Ihre Fürsorge bleibt oft nicht auf verwandte Jungtiere beschränkt, sie schliesst auch den Nachwuchs anderer Artgenossinnen ein. Im Gegenzug werden die Eltern entlastet, können getrost auf Jagd gehen, ihre Jungen mit reichlich Nahrung versorgen und sich in der Folge wieder schneller paaren.
Wie wertvoll dieser Einsatz ist, lässt sich bei Menschen in Franken und Rappen benennen: Gemäss Bundesamt für Statistik erbringen die Grosseltern in der Schweiz jährlich rund 160 Millionen Stunden Betreuungsaufwand und schaffen damit einen volkswirtschaftlichen Wert, den es auf rund 8,1 Milliarden Franken schätzt.
Eigensinnige Elefantendame
Ein lebendes Beispiel für tierisch überzeugende Fürsorge stand 48 Jahre lang im Elefantengehege des Zoos Zürich: Druk kam 1968 aus Bhutan, sie verstarb im Mai 2016 rund 49-jährig, für Elefanten in Gefangenschaft ein greises Alter. Druk war eine eigensinnige und sehr geschickte Elefantendame. Sie demontierte Winkeleisen oder faltete metallene Fütterungstafeln zusammen. Hatte sie genug von den Anweisungen der Menschen, legte sie sich einfach auf den Boden und liess deren Worte ins Leere verhallen. Und sosehr sie die anderen Weibchen ins Herz schloss, den Männchen verweigerte sie ihre Gunst. Den einen Bullen verprügelte sie, als dieser jung und schmächtig in ihr Leben trat. Einem zweiten biss Druk die Schwanzquaste ab. Entsprechend blieb sie kinderlos.
Also kümmerte sie sich um die Aufzucht fremder Kälber. Sie war die Erste, die nach der Geburt eines Elefantenbabys zur Mutter gelassen wurde – und wachte darüber, als wäre es ihr eigenes. Ihre Weggefährtinnen achteten Druk selbst, als das Vier-Tonnen-Tier zu schwächeln begann. «Sie spielte in der sozialen Ordnung der beiden Elefantenfamilien, die bei uns lebten, eine wichtige Rolle», sagt Kurator Zingg. «Sie war die beste Tante, die sich Jungtiere wünschen konnten.»
Auch bei Orcas werden Jungtiere oft in die Obhut älterer Exemplare übergeben. Die wohl bekannteste Orca-Oma war Granny, die im nordöstlichen Pazifik lebte und von Zoologen über Jahrzehnte beobachtet wurde. Granny war 105 Jahre alt und damit länger als 70 Jahre unfruchtbar. Sie hatte eine beachtliche Familie um sich geschart, hütete die Kälber, wenn ihre Weggefährtinnen abtauchten, um Fische zu jagen. Sie brachte den Kleinen Echo-Ortung bei, zeigte ihnen die besten Ruheplätze und Orte, wo sich die Lachse besammelten. J2, wie die Wal-Dame offiziell hiess, wurde in den 1930er-Jahren erstmals fotografiert. Vor knapp zwei Jahren verschwand sie, wahrscheinlich ist sie gestorben. «Der Star der Orcas ist tot», titelten weltweit die Zeitungen.
Kultur, Kommunikation, Konflikte
Betagte Elefanten sind für ihre Verbünde mitunter derart wichtig, dass manchmal die Stabilität der Herden ins Wanken gerät, werden Alttiere von Wilderern getötet. «Die Gruppe verliert dadurch einen Grossteil ihres kulturellen Wissens: wie sie mit anderen Elefanten umgehen, kommunizieren, Konflikte lösen und Krisen überwinden», beschreibt die kanadische Zoologin Anne Innis Dagg in ihrem Buch «The Social Behavior of Older Animals» das soziale Verhalten älterer Tiere. Die Wissenschaftlerin hat unzählige Beobachtungen von Berufskolleginnen und -kollegen zusammengetragen und analysiert. Auch sie wollte wissen, wie Tiere mit ihrem Älterwerden umgehen. In ihrem Buch sind Geschichten zu finden, die einen rühren und die Hauptfiguren zu Heldinnen und Helden machen, auch wenn sie nur ihrer Natur folgen.
Innis Dagg erzählt beispielsweise von der alten afrikanischen Löwin Selenkay, die fünf Generationen aufzog und ihre Sippe lehrte, Jagd auf Strausse zu machen, um sich nicht mit den Menschen in den nahen Dörfern anzulegen. Sie beschreibt das Schicksal des mächtigen Elefantenbullen Big Tom, der selbst dann von Rivalen geachtet wurde, als er seinen Zenit längst überschritten hatte. Oder wie US-Forscher des Yellowstone Wolf Project einen anderen erfolgreichen Schulterschluss der Generationen skizzieren: Sie beobachteten rivalisierende Wolfsrudel und fanden heraus, dass in territorialen Kämpfen jene Gruppen besonders erfolgreich bleiben, in denen alte, erfahrene Tiere leben.
Der Zahn der Zeit nagt an allem Leben – auch viele Tiere leiden unter der Last des Alters. Sie werden wie wir von Arthritis, Diabetes, Krebs und anderen Gebresten befallen. Ihre Gelenke schmerzen, der Rücken zwackt, die Zähne wackeln und manche Pelzwesen sehen am Ende ihres Lebens aus, als hätten sich Motten an ihnen sattgegessen. Betagte Gorillamännchen etwa leiden nach ihrem 35. Lebensjahr auffällig oft unter Herz-Kreislauf-Problemen. Sogar Demenz beobachten Zoologen bei Vierbeinern und Vögeln, obwohl sich die Einschätzungen nicht wissenschaftlich belegen lassen: Denn verlässliche Memory-Tests für Schimpansen oder Rehböcke gibt es bis jetzt noch keine.
Diese Beispiele zeigen: Mensch und Tier sind im Alter enger verbandelt, als manche ahnen. Selbst der soziale Status vieler tierischer Oldies ist ähnlich schwierig, oft ist er sogar katastrophal. Werden Tiere gebrechlich und können mit Jungspunden nicht länger mithalten, werden sie mitunter getriezt und gemobbt. Sie müssen zusehen, dass sie satt werden, finden sich urplötzlich am Rande ihres Verbundes wieder oder werden ganz aus Herden oder anderen Gemeinschaften ausgeschlossen. «Die Idee, dem Alter Respekt und Vortritt zu gewähren, ist in der Natur nicht vorgesehen», sagt Robert Zingg: «Tiere kennen kein Gnadenbrot. Sie wollen stattdessen ihre eigene Fitness optimieren, um sich möglichst oft fortpflanzen zu können und damit ihre Erbmasse zu verbreiten.»
Altersplätze für Menschenaffen
Noch ist nahezu unerforscht, wie genau Tiere altern. Die Variationen sind erstaunlich breit. Die Qualle Turritopsis nutricula beispielsweise altert biologisch gar nicht – und stirbt trotzdem irgendwann. Ohne jegliche Vorzeichen. Plattwürmer wiederum regenerieren sich ohne Ende – und kommen so der Unsterblichkeit nahe. Das älteste Lebewesen, ein antarktischer Riesenschwamm, wird über 10 000 Jahre alt – Grönlandwale immerhin über 200 Jahre. Weshalb? Alles Rätsel der Natur.Was aber, wenn der Mensch die Obhut der Tiere übernimmt und auch im Alter über sie wacht, etwa im Zoo? «In Menschenobhut fällt die natürliche Selektion weg», sagt Robert Zingg: «Deshalb berät bei uns jeweils ein Gremium darüber, ob beispielsweise bei schweren Erkrankungen die Lebensqualität unserer Seniorinnen und Senioren gewährleistet bleibt – und entscheidet sich danach für medizinische Massnahmen oder für die Euthanasie.»
Viele Zoo-Tiere sterben aber auf natürliche Weise, etwa an Infekten, die unerkannt geblieben sind. Für Menschenaffen werden in Neuanlagen sogar Altersplätze eingerichtet. Damit betagte Tiere darin ihren Lebensabend verbringen können und nicht länger wichtige Zuchtplätze besetzen. Der Gorilla-Silberrückenmann im Zoo Zürich ist ein solcher Anwärter. N’Gola hat sich derart oft mit seinen Weibchen gepaart, dass er nun in den hormonellen Ruhestand treten und durch einen Artgenossen ersetzt werden müsste. Bis die Verantwortlichen für ihn eine Lösung gefunden haben, sind die Weibchen auf Pille.
Was wir von alten Hunden lernen können
Lesen Sie hier das Interview mit Autorin und Wolfsforscherin Elli H. Radinger.
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