Der Austritt aus dem Arbeitsleben, die lauter tickende Lebensuhr, der Tod eines geliebten Menschen: Die zweite Lebenshälfte stellt viele vor grosse Herausforderungen. Manche führen Menschen in eine schwere Lebenskrise – so auch Elfi P. (73) und Peter F. (87).
Text: Roland Grüter
Wir wissen zwar, wie unberechenbar das Leben ist. Dennoch sind wir immer aufs Neue überrascht, wenn es uns vor unerwartete Aufgaben stellt. Die meisten lösen wir spielend. Sind wir aber mit schwerwiegenden Themen konfrontiert, einer Krankheit, dem Verlust eines geliebten Menschen, mit grossen Ängsten, Schmerz oder Sinnesfragen, müssen wir alle Kräfte aufbringen, den Herausforderungen zu trotzen. Manche Schicksalsstrudel ziehen Menschen in Tiefen, die bedrohlich schwarz und dunkel sind. Dann ist Krisenintervention nötig: Hilfe von aussen.
Auch Elfi P. (73) geriet in eine solche Lebenskrise. Sie weiss noch immer nicht genau, welcher Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte. Waren es die Sorgen um ihre beiden erwachsenen Kinder? Die Erinnerungen an die alte Arbeitsstelle, der sie noch immer nachtrauert? Die Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt Zürich, die sie vor sechs Jahren freiwillig verlassen hat? Alte Narben? Wahrscheinlich spielten mehrere Faktoren ineinander. Irgendwann schwanden jedenfalls ihre Kräfte. Sie fühlte sich matt und leer. Sie sass tagelang auf ihrem Sofa und weinte sich durch die Tage. Elfi P. schaffte es noch knapp, aufzustehen, um ihren Alltag zu meistern. Also meldete sie sich zur Bioresonanz an, sie hatte ihr schon in anderen schwierigen Zeiten auf die Beine geholfen. Doch dieses Mal winkte die Therapeutin ab. «Ich würde dir gerne helfen», sagt die kluge Frau: «Aber ich glaube, du hast eine Depression. Geh zu einem Experten.» Ein paar Tage später sass Elfi P. in einer Beratungsstelle, wenige Tage später in der Klinik Clienia Littenheid, einer Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Dort blieb sie sechs Wochen. Die Diagnose lautete: Erschöpfungsdepression.
Wer den Lebensweg der Frau kennt, den erstaunt das wenig. Denn das Leben hatte ihr seit Geburt an grosse Sorgen bereitet. Sie wuchs in einer zerrütteten Familie auf, ohne jegliche Fürsorge. Auch im Heim und in der Pflegefamilie fand sie kein Zuhause, sie wurde missachtet, misshandelt, ja sogar missbraucht. Und auch später schrieb das Leben an ihrem Elend weiter. Sie heiratete einen Süditaliener, eifer- und spielsüchtig, sie wurde gescholten und ab und zu geschlagen. Sie blieb aber trotzdem bei dem Mann und kümmerte sich selbst nach der Trennung um ihn. Vor acht Jahren starb er an den Folgen von Lungenkrebs. All die Krisen konnte sie meistern. «Ich bin eine Kämpferin», sagt sie.
Dann aber kam im Herbst 2019 der Zusammenbruch. «Was ich durchlebt hatte, platzte plötzlich auf», erinnert sie sich. «Rückblickend bin ich dafür dankbar. Die Depression hat mich gezwungen, über mein Leben genauer nachzudenken. Und an mir zu arbeiten. Ich muss mit 73 Jahren lernen, besser zu mir zu schauen.» Mittlerweile steht sie wieder fest im Leben. Antidepressiva und eine ambulante Therapie schützen sie vor einem Rückfall.
«Die Depression hat mich gezwungen, über mein Leben nachzudenken.»
Franz Holderegger, Geschäftsführer von Krisenintervention Schweiz, vergleicht solche Lebenskrisen mit den Wagenrennen der alten Griechen. Diese wurden einst in Arenen abgehalten – auf einer Strecke mit langen Geraden und zwei extrem engen Kurven. An diesen Spitzkehren mussten die Fahrer zusehen, dass sie nicht aus der Bahn gerieten. Die Griechen nannten die Steinsäule, die es zu umfahren galt, sinnigerweise Katastrophe. «Ähnlich ist es mit Krisen», sagt Franz Holderegger, «auch hier muss man zusehen, dass man in der Spur bleibt.»
Die Stiftung, der er seit drei Jahren vorsteht, bietet schweizweit Kurse für Krisenmanagement an, berät kostenlos Privatpersonen in seelischen Notlagen und betreut Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Unternehmungen, falls es dort zu einem Unfall oder Suizid kommt. «Um die Kurve zu schaffen, ist volle Konzentration nötig», sagt der Experte. «Und manchmal auch Hilfe von anderen.» Will heissen: In solchen Momenten macht es Sinn, dass andere den Wagen mitsteuern und zusehen, dass es nicht zur Katastrophe kommt.
Genau das hat Krisenintervention im Sinn. Sie hilft, wo Betroffene nach einem Schicksalsschlag nicht weiterwissen. Sie will Menschen Wege aufzeigen, wo sie selber keine mehr sehen. Oft führt die Krisenintervention die Menschen zurück in ihren Alltag, manchmal ist es sinnvoll, die Geschehnisse tiefer aufzuarbeiten, in einer Therapie, allenfalls unterstützt durch Medikamente. «In der zweiten Lebenshälfte stehen häufig Verluste am Anfang von Lebenskrisen», sagt Bernd Ibach, Chefarzt des Zentrums für Alterspsychiatrie der Clienia Littenheid. Er betreut in seinem Zentrum Menschen über 65, die intensiverer Therapien bedürfen.
Davon sind viele Menschen betroffen. Gemäss Statistiken leidet jede vierte Pensionärin, jeder vierte Pensionär unter Depressionen, Ängsten und an anderen psychischen Krankheiten. Die Hälfte der Depressionen brechen in der zweiten Lebenshälfte der Menschen aus. Die Herausforderungen dieses Lebensabschnittes sind gross: Wir müssen uns von alten Rollen in der Gesellschaft und der Familie verabschieden und zu neuen finden. Viele kommen damit gut zurecht, andere erstarren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens – insbesondere, wenn eine Belastungssituation dazukommt.
Peter F. wollte wieder leben wie in alten Zeiten
Auch Peter F. wurde mit 87 vom Leben heftig durchgeschüttelt. Er hatte seine Frau, mit der er über 50 Jahre verheiratet war und die an Demenz erkrankt war, drei Jahre in der gemeinsamen Wohnung intensiv betreut. Sie konnte den Tag nicht mehr von der Nacht unterscheiden und weckte ihren Gatten regelmässig mitten in der Nacht auf, bis auch er aus dem Tritt geriet und nicht mehr schlafen konnte. Vergangenen Januar war der Punkt erreicht, an dem professionellere Hilfe nötig war. Die Frau trat in ein Altersheim ein, was Peter F. eigentlich entlasten sollte. Stattdessen aber litt er zusehends an Schlaflosigkeit und Antrieblosigkeit, konnte kaum mehr Entscheidungen fällen. Er schwächelte und stürzte immer öfter. Seine beiden Kinder begannen, sich um ihren Vater Sorgen zu machen, und begleiteten ihn zum Hausarzt. Dieser wies den sonst fitten Rentner in ein Akutspital ein – um abzuklären, ob die plötzlich auftretenden Veränderungen mit einem körperlichen Gebrechen einhergehen, was bei älteren Menschen oft der Fall ist. Denn auch eine angehende Demenz, Parkinson oder ein kommuner Herzinfarkt können depressive Verstimmungen bewirken.
Doch bei Peter F. war alles in Ordnung. Auch er entschied sich für einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Er analysierte seine Lebenslage aus Distanz. «So tief war ich zuvor noch nie gefallen», sagt er. Zuvor hatte er ein erfülltes, glückliches Leben: «Daran wollte ich wieder anknüpfen.» Der Schritt in die Klinik fiel dem gebürtigen Stadtluzerner nicht leicht. Im Gegenteil, er schämte sich sogar dafür, brach während des fast zweimonatigen Aufenthaltes die Kontakte zu Freunden ab, um sich ihnen nicht offenbaren zu müssen. Die Therapien und Gespräche in der Klinik, Medikamente und die Fürsorge seiner Kinder haben ihm wieder auf die Beine geholfen: «Ich musste lernen, Hilfe anzunehmen. Einst war ich der Starke.» Er habe sich schwergetan, sich davon zu verabschieden und sich in seiner neuen Rolle anzunehmen, erzählt er am Esstisch seiner Wohnung. «Ich musste an mir arbeiten», sagt er: «Mittlerweile bin ich wieder ich selbst.»
So reagieren Sie richtig
«Krisen gehören zum Leben so wie Freude und Lust», bilanziert Franz Holderegger, Geschäftsführer der Stiftung Krisenintervention Schweiz: «Ohne Krisen gäbe es keine Entwicklung, keine Veränderungen.» Was aber tun, damit die Krise nicht zur Katastrophe gerät?
Sie sind selber von einer Krise betroffen. In den allermeisten Fällen schaffen wir es selber, Krisen zu bewältigen. Lähmen sie uns aber über längere Zeit oder schnüren uns die Luft ab, ist Fremdhilfe erforderlich. Fassen Sie sich ein Herz und reden Sie über Ihre Sorgen. Ansprechpartner sind: der Hausarzt, öffentliche Kriseninterventionsstellen, wie sie in fast allen Schweizer Städten zu finden sind, oder Fachstellen wie Krisenintervention Schweiz (kriseninterventionschweiz.ch). Auch ein (anonymer) Kontakt mit der Telefonseelsorge «Die Dargebotene Hand» (Tel. 143) kann ein erster Schritt sein. Gut zu wissen: Krisenintervention ist zeitlich immer auf wenige Gesprächstermine limitiert. Allenfalls sind weitere Schritte – Gesprächstherapien, ein Klinikaufenthalt, medikamentöse Therapien – erforderlich. Bei Themen um Demenz stehen die Alzheimergesellschaften in allen Kantonen beratend und unterstützend zur Verfügung.
Eine Freundin, ein Bekannter, ein Familienmitglied ist davon betroffen. Falls zwischen Ihnen und der betroffenen Person eine Vertrauensbasis besteht: Sprechen Sie die Person immer auf die bemerkten Veränderungen an. Bieten Sie ihr an, sie allenfalls zu einer Fachstelle oder zum Hausarzt zu begleiten. Falls Sie der Person zu wenig nahestehen: Kontaktieren sie allfällige Vertrauenspersonen.
«Allein die Distanz kann den Blick auf das Leben verändern»
Manchmal sind Menschen auf intensive Therapien angewiesen, um Krisen zu überwinden. Privatdozent Dr. Bernd Ibach, Chefarzt des Zentrums für Alterspsychiatrie und Privé der Clienia Littenheid, einer Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt, was Betroffene während stationären Behandlungen erwartet. Zum Interview.
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