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Eine Handvoll Mitgefühl

Teilt man Sorgen und Ängste mit anderen, wiegen sie oft weit weniger schwer. Denn die Kraft der Zuwendung und des Zuhörens ist gross – insbesondere in Zeiten der Krisen und Umbrüche, wie wir sie aktuell durchleben. Einst waren Vertreterinnen und Vertreter der Kirche für die Sorge fröstelnder Seelen zuständig – moderne Seelsorge basiert auf anderen Werten. Vier Expertinnen und Experten erzählen, womit sie Menschen Trost und Zuversicht schenken.

Spitalseelsorgerin Nicole Di Lorenzi lehnt an einer Säule im Innenbereich eines Spitals, über ihr leuchten zwei Deckenlampen.
Nicole De Lorenzi, Spitalseelsorgerin © Jessica Prinz

«Glauben hilft immer – auch wenn er nicht der kirchlichen Tradition entspricht»

Seit 20 Jahren arbeitet Pfarrerin Nicole De Lorenzi (47) im Kantonsspital Winterthur als Seelsorgerin. In ihrer Arbeit redet sie mit den Menschen über das Leben,aber selten über die Kraft Gottes.

Manchmal zielen selbst ausgewählte Worte ins Leere. Dann bleiben Nicole De Lorenzi nur Anteilnahme und Mitgefühl. Eben erst wurde die reformierte Pfarrerin auf die Intensivstation des Kantonsspitals Winterthur gerufen, in dem sie als Seelsorgerin arbeitet. Ein junger Mann hatte einen Hirnschlag erlitten. Er wird wahrscheinlich ein Leben lang von Kopf bis Fuss gelähmt bleiben. «Wie soll man hier mit Worten Trost schenken?», fragt Nicole De Lorenzi: «Dieses Ereignis macht sprachlos. In solchen Momenten kann man als Seelsorgerin einzig mitfühlen und mitaushalten.» Wie wertvoll Anteilnahme sein kann, weiss die 47-Jährige aus ihren späten Jugendjahren. Ihre Mutter lag 13 Wochen im Wachkoma. «Diese Erfahrung hat meine Berufsentscheidung mitgeprägt», sagt die gebürtige Tessinerin. Nach dem Studium der Theologie stieg sie sogleich in die Spitalfürsorge ein. Parallel dazu arbeitet sie als Coachin und Supervisorin. Zudem unterrichtet sie angehende Seelsorgerinnen und Seelsorger an der Universität.

Kirchlicher Glaube ist kein Allerweltsmittel

Seit 20 Jahren besucht sie Menschen im Kantonsspital Winterthur an den Krankenbetten. Auf der Intensiv-und Palliativstation des Kantonsspitals zeigt sich besonders, wie unberechenbar und zynisch das Schicksal manchmal sein kann. Ein Unfall, eine schwere Krankheit stellt die Betroffenen und deren Angehörige vor grosse Lebensfragen. Nicole De Lorenzi hat darauf zwar oft ebenfalls keine Antwort – auch ihr Glaube zu Gott hilft nicht immer weiter. Und trotzdem kann sie in ihrer Funktion als Seelsorgerin selbst hier helfen. «Es geht letztendlich darum, dass Menschen gesehen und gehört werden», sagt die Pfarrerin. Das gelte nicht nur für Patientinnen und Patienten, sondern auch für die vielen Pflegeprofis. «Was diese leisten, ist enorm. Nur wird das oft übersehen. Auch deren Wohlbefinden ist Teil meiner Arbeit.»

Manche Patientinnen und Patienten erschrecken, wenn sich Nicole De Lorenzi als Pfarrerin vorstellt. «Ich bekomme oft zu hören: Eine Pfarrerin? Mit Glaubensfragen kann ich nichts anfangen.» Darüber muss Nicole De Lorenzi herzhaft lachen. Sie anerkennt, dass viele nicht mehr in der Tradition des kirchlichen Glaubens verwurzelt sind – obwohl sie selbst an die Kraft Gottes glaubt. Entsprechend drehen sich die Gespräche selten um Religion und Kirche, dafür aber immer ums Leben und oft genug auch um Spiritualität. «Denn im Spitalbett denken Menschen oft über ihr Leben nach und stellen existenzielle Fragen. Dafür hat das Personal oft keine Zeit. «Hier kann ich meinen Beitrag leisten: Fürsorge, die über das Körperliche hinausgeht. Das macht Seelsorge schliesslich aus.» Roland Grüter


Marcel Steiner, Lokführer SBB, sitzt auf einer Bank auf einem Bahnsteig und schaut in die Kamera.
Marcel Steiner, Lokführer und Mitarbeiter SBB Care © Jessica Prinz

«Ich kenne das Gefühl aus eigener Erfahrung»

Lokführer Marcel Steiner (60) engagiert sich bei SBB Care dafür, dass Unfallbetroffene wieder in ihren Alltag und ihr Berufsleben finden.

Ein Lokführer schaut nach vorne. Nie zurück. Bis er im Führerstand einen Unfall oder eine brenzlige Situation miterlebt. «Diese Erinnerung brennt sich unlöschbar ein», sagt Marcel Steiner. «Ich kenne das Gefühl.» Man könne aber lernen, damit umzugehen.

Die Schweizerischen Bundesbahnen haben 2013 SBB Care gegründet – «für die Primär-und Sekundärprävention zur Bewältigung potenziell traumatisierender Ereignisse»: Selbstunfälle, Entgleisungen, Gewalt … Das Team bietet seine Hilfe Mitarbeitenden, aber auch Angehörigen und Fahrgästen an. Neben der Erstbetreuung durch Fachleute stellen sich auch über 300 SBB-Angestellte zur Verfügung.

Dazu zählt Marcel Steiner, seit 32 Jahren Lokführer und fast seit der Gründung von SBB Care als Freiwilliger dabei. Als sogenannter Peer ruft der Tösstaler Berufskolleginnen und -kollegen an, um ihnen als ausgebildeter psychologischer Notfallbegleiter nach einem schlimmen Ereignis seine Unterstützung anzubieten. Es sind meist drei bis fünf Gespräche. Zudem ist er auch als Care Giver bei der Akutbetreuung vor Ort ausgebildet und spricht als Fachredner in der Lokführerausbildung.

Schock wirkte drei Jahre nach

Oft gehe es darum, die Situation zu stabilisieren und die Starre zu lösen, sagt der 60-Jährige. Mit einfachen Mitteln: vor Ort einen Kaffee anbieten oder am Telefon zum Duschen oder Essen animieren. Er weiss, wie sich die Momente und Tage nach einem traumatischen Erlebnis anfühlen. Unvergessen das Bangen, bis klar war, dass sein Bremsweg ausgereicht hatte, um die Kollision mit einer Person um Zentimeter zu verhindern. Drei Jahre hat es gedauert, bis er die Stelle passieren konnte, ohne daran zu denken.

Als Care-Helfer orientiert sich Marcel Steiner am Notfallhilfe-Protokoll SAFER. «S» steht für stabilisieren: indem jemand da ist. «A» für Anerkennung: Betroffene fühlen sich ernst genommen. «F»: Festigen – durch erklären, was in der Folge mit Psyche und Körper geschehen kann. «E»: Ermutigen – zu allem, was der Person in Stresssituationen guttut. «R»: Rückführung. Wie geht es weiter? Steiner vereinbart den nächsten Anruf oder vermittelt professionelle Hilfe.

Er sei ein viel besserer Zuhörer geworden durch diese Tätigkeit, sagt er. Selbst Banalitäten könnten auf posttraumatische Belastungsstörungen hinweisen. Trotzdem ist er sich seiner Grenzen bewusst. Wichtig ist ihm, sich so viel Zeit wie nötig zu nehmen. Die Dankbarkeit sei sehr gross. Was Marcel Steiner ebenso freut: Während er in seiner Generation oft eine «stumme Solidarität» ausmacht, sprechen junge Lokführende das Thema offener an, ermutigt durch ihre Ausbildung. Fabian Rottmeier


Polizist Fiorenzo Rizzi zu Besuch bei einer Seniorin im Tessin.
Fiorenzo Rizzi, Gemeindepolizist © Jessica Prinz

«Meine betagten Freundinnen und Freunde liegen mir am Herzen»

Fiorenzo Rizzi (58) besucht als Gemeindepolizist in Mendrisio Seniorinnen und Senioren.

Fiorenzo Rizzi ist kein gewöhnlicher Polizist. Seine Nachmittage verbringt er damit, für Recht und Ordnung zu sorgen. An den Vormittagen allerdings besucht er in der Gemeinde nahe der italienischen Grenze seit zwölf Jahren alte Menschen. «Signora Bina, sono Fiorenzo» meldet sich der 58-Jährige an diesem Dienstagmorgen an der Türklingel. Der Türsummer erklingt. Seine «betagten Freunde», wie er sie nennt, erwarten ihn immer mit Freude.

Rizzi betritt die Wohnung der 85-Jährigen, schaut sich um: Ist alles aufgeräumt? Sauber? Wirkt Signora Bina körperlich und psychisch gesund? Dank gewisser Strategien könne man sogar kontrollieren, ob sich die Leute gut ernähren, erklärt Rizzi. Bei Signora Bina sei aber immer alles perfekt. Würde dem Polizisten bei seinem Besuch etwas auffallen, würde er bei entsprechenden Behörden Alarm schlagen.

Ein Todesfall stand am Anfang

Alles begann, als die Polizei von Mendrisio eine Leiche in einer Wohnung auffand, erst Tage nach dem Tod. Man sah Handlungsbedarf: Seit nunmehr dreissig Jahren werden Haushalte angeschrieben, in denen alleinstehende Menschen ab 72 Jahren wohnen, um sie über diesen kostenlosen Service zu informieren. Die Besuche macht Rizzi allein, momentan stehen über 30 ältere Menschen auf seiner Liste, die er einmal im Monat besucht. Eine Ausbildung absolvierte der Tessiner Ordnungshüter nicht: «Ich vertraue auf mein Bauchgefühl. Ich bin ein Menschenfreund – meine Betagten liegen mir am Herzen.»

Erhalte er von einer Person keine Rückmeldung, rufe er auch mal im Spital an. Finde er sie dort, dann besuche er sie. Meist kann Rizzi aber, nachdem er sich umgeschaut hat, zum gemütlichen Teil des Service übergehen: der «Chiacchierata», der Plauderei. Über Politik, den Krieg, die Familie, über Erinnerungen aus der Zeit, als die Seniorinnen und Senioren noch jung waren. Über sehr persönliche, vertrauliche Dinge. Deren Hauptanliegen sei aber die Sicherheit, sagt Rizzi. Diese kann der Polizist vermitteln. «Ich bin aber nicht nur als Polizist hier, sondern als Fiorenzo. Mit den Leuten, die ich besuche, führe ich eine Beziehung des Vertrauens und der Freundschaft.»

So sei es für beide Seiten ein bereichernder Austausch. Er lerne viel bei den Gesprächen und erzähle auch von sich, etwa, dass er kürzlich Grossvater geworden sei. Manchmal schreiben ihm «seine Alten» eine SMS, um ihm einen schönen Tag zu wünschen. Alle besitzen seine private Handynummer, nicht etwa die Dienstnummer. So können sie Fiorenzo Rizzi jederzeit erreichen, wenn sie etwas brauchen. «Das ist keine Dienstvorschrift, aber ich will das so. Nur so kann ich wirklich für die Menschen da sein.» Jessica Prinz 


Gefängnis-Seelsorgerin Anne Reinhard. Sie steht vor einer Mauer und schaut nachdenklich nach links.
Annemarie Reinhard, Gefängnisseelsorgerin © Jessica Prinz

«Ich möchte die Frauen ihre menschliche Würde spüren lassen»

Annemarie Reinhard (63) ist seit sieben Jahren Seelsorgerin im Frauengefängnis Hindelbank. Sie will den Frauen unvoreingenommen entgegentreten.

Ein Drittel ist da wegen Drogendelikten. Ein weiteres Drittel wegen Tötungsdelikten, versuchter Tötung oder Körperverletzung. Doch Annemarie Reinhard nennt ihre Klientel nicht Straftäterinnen oder Häftlinge. Für sie sind es schlicht «die Frauen». Was sie mit dem Gesetz in Konflikt gebracht hat, muss sie nicht unbedingt wissen. Zwar würde ihr der Zugang zu den Akten gewährt. Doch davon macht sie selten Gebrauch. «Die Frauen haben ein Recht darauf, dass ich ihnen als Seelsorgerin unvoreingenommen begegne.» Vor allem will sie dafür einstehen, dass jede Frau menschliche Würde besitzt, und ihr das auch zu spüren geben – ohne das von ihr verübte Delikt zu bagatellisieren.

Sieben Jahre arbeitet die reformierte Pfarrerin nun schon als Gefängnisseelsorgerin in Hindelbank. Sie weiss, wie gut es das Leben mit ihr selbst gemeint hat – im Gegensatz zu mancher Strafgefangenen. Viele hätten in ihren Familien keine sichere Bindung erfahren, sagt sie. Stattdessen Verletzungen, die auch als Erwachsene nachwirken.

Sie steht unter umfassender Schweigepflicht

Annemarie Reinhard – ruhige Stimme, sanfte Ausstrahlung – bietet Begleitung auf einer besonderen Wegstrecke an. Alle Frauen hätten eines gemeinsam, sagt die 63-Jährige. Sie seien an einem Punkt angelangt, wo sie gezwungen sind, innezuhalten und ihren Lebensweg neu zu überdenken. Da will sie zuhören und unterstützen – auch bei der Bewältigung des Gefängnisalltags, wenn ein Gerichtstermin ansteht oder das Urteil akzeptiert werden muss. Sie verurteilt die Frauen nicht für ihre Taten, «dafür sind die Gerichte zuständig». Ihre Schweigepflicht ist so umfassend, dass man ihr sogar ein Tötungsdelikt gestehen könnte. Als Seelsorgerin wäre sie verpflichtet, das für sich zu behalten. Das schafft Vertrauen. Doch meistens bekommt sie in solchen Gesprächen vor allem die menschlichen Hintergründe einer Straftat zu hören.

Die Begegnungen mit der Seelsorgerin finden dort statt, wo die Frauen leben. Am Arbeitsplatz, auf dem Areal, in der Einzelzelle. Ein Gespräch knüpfe bei einem Alltagsproblem an und münde vielleicht in tiefgründigeren Fragen zu Spiritualität und Glauben. Die Gefangenen sehnten sich nach Teilhabe am Leben ausserhalb der Gefängnismauern. Sie sind nicht bloss Täterinnen, sondern auch Ehefrauen und Mütter, die sich um ihre Kinder sorgen. Viele quäle ein schlechtes Gewissen und die Frage nach der Zukunft: Was wird aus mir? Ob Gott mir eine zweite Chance gibt?Annemarie Reinhard versucht, Vertrauen und Hoffnung zu vermitteln. Das Wort Gott nimmt sie vorsichtig in den Mund. In ihren Gottesdiensten setzt sie gern auch auf Rituale, «bei denen man etwas erfahren kann»: eine Kerze anzünden, eine Bitte aussprechen, im Kreis um den Taufstein das Abendmahl miteinander teilen.Sie wünscht «ihren» Frauen, dass nach dem Ende der Strafe Erfahrungen von Gemeinschaft auch ausserhalb der Gefängnismauern wieder möglich sind. Claudia Senn

Sorgen? Hier finden Sie Hilfe

Wurden Frauen und Männer einst von grossen Sorgen geplagt, klopften sie meist an die Türen von Kirchenvertretern, von Pfarrerinnen und Priestern. Zusehends mehr Menschen wenden sich jedoch von Religion und Kirche ab, deshalb sind andere Seelenwächter gefragt. Darauf verweisen beispielsweise die Zahlen der «Dargebotenen Hand». Das Sorgentelefon unterstützt seit 1957 rund um die Uhr Menschen in Krisen, unabhängig von Religion, Herkunft und Kultur. Monatlich beantworten die über 600 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchschnittlich um 15 900 Anrufe. Vor allem im Altersbereich über 65 Jahren verzeichnet die «Dargebotene Hand» eine markante Zunahme der Ratsuchenden.

Falls auch Sie Hilfe suchen:

  • Dargebotene Hand, Telefon 143.
  • Eine Liste verschiedener Anlaufstellen finden Sie auf wie-gehts-dir.ch
  • Kostenlose Hilfe von 35 ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern – eine Einrichtung der reformierten und der katholischen Kirche gibts auf seelsorge.net
  • Bei Sorgen und Problemen können Sie sich auch an die Pro-Senectute-Infoline wenden: Telefon 058 591 15 15.
Beitrag vom 14.11.2022

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