Alleinstehend und kinderlos: Rund 100 000 Männer und Frauen im Pensionsalter leben ohne Partner und haben keine Kinder. Notwendige Hilfe leisten Freundinnen, Nachbarn und Freiwillige. Bezahlbare professionelle Unterstützungsangebote sind gefragt.
Text: Usch Vollenwyder
Weder als Kind noch als Teenager hatte Therese S. vom Prinzen geträumt, mit dem sie dereinst eine Familie gründen würde. Babys interessierten die heute 77-Jährige auch später nicht, auch mit kleineren und grösseren Kindern wusste sie nie viel anzufangen. Als Jüngste habe sie sich ständig unter der Knute der ältesten Schwester gefühlt, erzählt sie. Diese habe die vierköpfige Geschwisterschar angeführt und sie je nach Spielbedarf als Schulkinder, Räuberbande oder Königsfamilie regiert. Lieber verzog sich Therese S. hinter ihre Bücher: «Ich tauchte ein in fremde Welten, las von fernen Völkern und war fasziniert von exotischen Traditionen.» Mit Puppen spielte sie nie.
«Es war mein grösster Traum, dereinst zu reisen und andere Länder kennenzulernen. Ich studierte einige Semester Ethnologie, jobbte als Reiseleiterin, war monatelang im Ausland unterwegs und schrieb für renommierte Reisemagazine, bevor ich in einem Reisebüro sesshaft wurde. Meine älteste Schwester hatte ihrer Familie zuliebe ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben – ich hätte nicht mit ihr tauschen mögen. Zudem traf ich auch nie auf einen Mann, mit dem sich die Frage nach Nachwuchs gestellt hätte. Meine Freundinnen sind meine Wahlfamilie. Zwei von ihnen sind ohne Partner und Kinder in der gleichen Lebenssituation wie ich. Zusammen haben wir die Prospekte des neu eröffneten Alterszentrums in unserem Städtchen studiert und überlegen uns, gleichzeitig dort einzuziehen – jede in eine eigene kleine Alterswohnung, aber alle unter dem gleichen Dach.» Therese S. (77)
Nora Meuli, Ökonomin und Soziologin, ist Autorin einer neuen Studie zum Thema «Alt werden ohne Familienangehörige». Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz ist überzeugt: «Wer schon früh weiss, dass er ohne Familienangehörige alt wird, bezieht andere Überlegungen in seine Altersplanung ein als Ehepaare oder Familienväter und -mütter» (siehe Interview). Alleinstehende kinderlose Männer und Frauen wissen, dass sie dereinst nicht auf die Hilfe und Betreuung von Nachkommen zählen können. Vor der gleichen Herausforderung stehen Menschen ohne Kinder, die ihren Partner verloren oder sich von ihm getrennt haben. Auch sie können im Alter auf kein familiales Unterstützungsnetz zurückgreifen.
«Mein Mann war achtzig, als er an einem Herzinfarkt starb – einfach so, ohne Vorwarnung. Ich war damals noch keine siebzig Jahre alt. Da mein Mann so vital und interessiert war und mindestens 120 Jahre alt werden wollte, dachte ich kaum je daran, dass er vor mir sterben könnte. Nach seinem Tod fuhr ich mindestens einmal in der Woche mit dem Zug die anderthalb Stunden zu meiner jüngeren Schwester, deren beide Söhne ich immer ein bisschen als meine Ersatzkinder betrachtet hatte. Noch so gern half ich wo nötig bei der Grossnichten und –neffen. Irgendwann stellte sich die Frage: Wo und wie will ich im Alter leben? Vor drei Jahren wagte ich den Schritt und zog in ein Haus mit altersgerechten Wohnungen in der Nähe meiner Schwester und Neffen. Ich habe es nie bereut. Unterstützung im Alltag – zum Beispiel bei PC–Problemen oder Einkaufen während des Lockdowns – bekomme ich von den Jungen. Sobald ich Betreuung und Pflege nötig habe, werde ich in das Pflegezentrum umziehen, zu dem meine jetzige Wohnung gehört.» Angela F. (87)
Rund 100 000 pensionierte Männer und Frauen sind laut Bundesamt für Statistik alleinstehend und kinderlos – das sind gegen zehn Prozent dieser Bevölkerungsgruppe. Ihre Zahl wird von Jahr zu Jahr grösser. Zum einen gibt es immer mehr ältere Menschen, die noch älter werden; zum anderen wird sich der Strukturwandel in der traditionellen Familie – Vater, Mutter, Kinder – fortsetzen. Allein von den heute 50- bis 60-Jährigen leben rund 130 000 ohne Familienangehörige. Frauen sind ungleich häufiger betroffen. Sie haben eine höhere Lebenserwartung als Männer und sind öfter verwitwet, weil ihre Partner vielfach älter sind und früher sterben. Zudem gehen verwitwete oder geschiedene Männer eher wieder eine Beziehung ein als Frauen.
Auf die zunehmende Zahl von Frauen und Männern, die ohne Familienangehörige alt werden, sind Politik, Fachleute und Gesellschaft nicht vorbereitet. Für die Betreuung und Unterstützung älterer Menschen zählen sie nach wie vor auf die Angehörigen, allen voran auf Partner und Partnerinnen, aber auch auf Söhne und vor allem auf Töchter. Studien bestätigen, dass erwachsene Kinder in der Regel gerne bereit sind, ihre Eltern zu unterstützen und ihnen bei der Alltagsbewältigung zu helfen. Sie tun es aus Zuneigung und Verbundenheit, zum Teil auch aus Pflichtgefühl, manchmal auch, weil sich aus finanziellen Gründen keine professionelle Hilfe organisieren lässt.
Diese Angehörigenbetreuung wird beim Grundsatz «ambulant vor stationär», der Basis für viele gesundheits- und sozialpolitische Entscheidungen, vorausgesetzt. Doch wer springt in die Versorgungslücke, die bei den Seniorinnen und Senioren ohne Familienangehörige entsteht? Wer leistet die nötige Care-Arbeit in der Lebensphase, die von zunehmender Gebrechlichkeit und Fragilität gekennzeichnet ist? Und vor allem: Wer bezahlt sie?
«So gern hätte ich Kinder gehabt! Ich heiratete jung – einer grossen Kinderschar stand nichts im Weg. Doch die Jahre vergingen und es stellte sich kein Nachwuchs ein. Das war in den Vierzigerjahren. Über Kinderlosigkeit redete man nicht. Ich sprach nicht einmal mit meinem Mann darüber. Und zum Arzt ging man auch nicht. Es war einfach Schicksal. Schon als kleines Kind und später in allen Ferien kam meine Nichte – die älteste Tochter meines Bruders – zu uns auf den kleinen Landwirtschaftsbetrieb. Für mich war das ein grosses Glück! Sie war die Tochter, die ich nie gehabt hatte. Auch als sie längst erwachsen war und eine eigene Familie hatte, blieb unser enger Kontakt bestehen. Nach unserer Pensionierung hüteten mein Mann und ich ihr grosses Haus mit Hund und Katzen, damit sie mit ihrer Familie in die Ferien fahren konnte. Als mein Mann starb, war sie es, die mich unterstützte und mir bei allen Schritten zur Seite stand. Sie organisierte und half mir auch beim Umzug in unser gemeindeeigenes Altersheim, in dem sie mich auch regelmässig besucht und an den internen Anlässen teilnimmt. Ich habe sie auch eingesetzt als Vertreterin in allen medizinischen und persönlichen Belangen.» Louise M. (93)
Kinderlose Seniorinnen und Senioren sind nicht zwangsläufig isoliert odereinsam. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Deutschen Zentrums für Altersfragen aus dem Jahr 2018. Sie stellt fest, dass sich kinderlose ältere Männer und Frauen die nötige Unterstützung anderswo holen – im Freundeskreis, bei Bekannten, Nachbarn oder von anderen Verwandten. Mit ihrem eigenen Netzwerk kompensieren sie die fehlende Unterstützung durch die eigenen Kinder. Hilfe für Alltagsarbeiten, emotionale Aufmunterung oder Rat bei persönlichen Entscheidungen holen sie sich anderswo, als Eltern und Ehepaare es tun würden. Die gleiche Studie weist zudem nach, dass sich Kinderlosigkeit nicht – wie viele erwarten würden – auf die Lebenszufriedenheit älterer Menschen auswirkt.
Ein eigenes soziales Netz müssen sich auch älter werdende Menschen aufbauen, die aus irgendeinem Grund nicht auf ihre Nachkommen zählen können: Eine konfliktgeladene Eltern-Kind-Beziehung und familiäre Streitereien, eine zu grosse räumliche Distanz zwischen den Generationen oder fehlende materielle oder emotionale Ressourcen können den Aufbau eines tragfähigen familialen Unterstützungsnetzes erschweren oder gar verhindern. Auch sie sind mit zunehmendem Alter auf Hilfe aus der weiteren Verwandtschaft, dem Freundeskreis, der Nachbarschaft, von Ehrenamtlichen oder von Freiwilligendiensten angewiesen.
«Ich war immer ein Familienmensch. Am liebsten hätte ich eine ganze Schar Kinder gehabt! Leider ist es bei zweien geblieben. Mein Mann war Geschäftsführer einer mittelgrossen Bank, es ging uns finanziell immer gut. Wir wohnten in einem grossen Haus mit einem grossen Garten und einem Swimmingpool. Unsere beiden Kinder wuchsen behütet auf, es fehlte ihnen an nichts. Und dann passierte, was nie hätte passieren dürfen: Unsere Tochter geriet in die Drogenszene. Einzelheiten möchte ich nicht erzählen; aber unsere ganze heile Familienwelt geriet durcheinander. Während mein Mann und ich uns völlig auf unsere Tochter konzentrierten, entfernte sich unser Sohn innerlich und äusserlich immer mehr von uns. Er studierte und ging seinen eigenen Weg – heute lebt er in den USA und ist dort ebenfalls in einer Bank tätig. Unsere über 40-jährige Tochter lebt in einer Institution; gute Phasen wechseln sich ab mit psychotischen Schüben. Vor sieben Jahren erkrankte mein Mann an Krebs, vor zwei Jahren ist er gestorben. Ich hatte nie die Zeit gehabt – und hatte sie mir auch nie genommen –, einen tragfähigen Freundeskreis aufzubauen. Plötzlich stand ich ganz allein da, ich erlitt eine Depression und brauche auch heute noch professionelle Hilfe. Wenigstens habe ich keine finanziellen Sorgen.» Susanne G. (74)
Doch längst nicht alle alleinstehenden und kinderlosen Frauen sind im Alter finanziell auf Rosen gebettet. Viele gehören noch zur Generation, die mit deutlich tieferen Renten auskommen muss als gleichaltrige Männer. Da nur professionelle Pflege- und nicht auch Betreuungsleistungen von den Krankenversicherungen übernommen werden, sind für sie Entlastungs- und Betreuungsangebote oft unerschwinglich. Die Wissenschaftlerin Nora Meuli stellt in der vom Migros-Kulturprozent in Auftrag gegebenen Studie «Alt werden ohne Familienangehörige» die Frage, ob es nicht – als Teil des Service public im Sozial- und Gesundheitswesen – ein Anrecht auf professionelle Betreuung geben müsste: «Alle Menschen, ob mit oder ohne Familienangehörige, sollen gut betreut und in Würde alt werden können.» Sie ist überzeugt, dass diese Forderung dringend auf die alterspolitische Agenda gehört. ❋
Lesen Sie auch das Interview mit Nora Meuli, Autorin der Studie «Alt werden ohne Familienangehörige».
Hilfe und Unterstützung:
Pro Senectute unterstützt und berät Sie in allen Fragen rund ums Alter und Älterwerden. Die Adresse Ihrer Pro-Senectute-Stelle finden Sie www.prosenectute.ch.
«Wichtig ist ein soziales Netz, das trägt»
Wo die familiale Hilfe fehlt, müssen professionelle Unterstützungsangebote bezahlbar sein – fordert Nora Meuli, die Autorin der Studie «Alt werden ohne Familienangehörige». Zum Interview.
Das Thema interessiert Sie?
Werden Sie Abonnent/in der Zeitlupe.
Neben den Print-Ausgaben der Zeitlupe erhalten Sie Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten von zeitlupe.ch, können sich alle Magazin-Artikel mit Hördateien vorlesen lassen und erhalten Zugang zur Online-Community «Treffpunkt».
Um diese Website optimal bereitzustellen, verwenden wir Cookies.
Mit der Nutzung dieser Website stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Erfahren Sie mehr in der
Datenschutzerklärung.