Bleiben oder zügeln?
Wie und wo will ich wohnen? Bleibe ich im vertrauten Umfeld? Kann ich mir meinen Wohntraum erfüllen – und leisten? Eignet sich meine Wohnung fürs Älterwerden? Reizt mich eine moderne Wohnform? Wohnfragen zwischen Bleiben und Zügeln beschäftigen viele. Wer sich frühzeitig mit den Antworten auseinandersetzt, hat mehr Handlungsspielraum.
Text: Annegret Honegger, Illustration: Chloe Harris
«Wo-Wo-Wohnige!» riefen Demonstrierende kürzlich in Zürich. Weil Wohnraum in vielen Städten ein knappes und teures Gut geworden ist, treibt die Angst ums Dach über dem Kopf die Menschen um und auf die Strasse. Schlagzeilen machen auch die Älteren. Weil sie zügeln müssen oder wollen, aber in der vertrauten Umgebung keine Wohnung finden. Und weil sie gemäss Statistik deutlich mehr Fläche bewohnen als die unter 65-Jährigen.
Sollten Ältere umziehen, damit Wohnraum für Jüngere frei wird? Joëlle Zimmerli winkt ab. Die Sozialwissenschaftlerin befasst sich seit vielen Jahren mit der Rolle der älteren Menschen auf dem Wohnungsmarkt: «Ob jung oder alt: Wer sich seine Wohnung leisten kann und sich dort wohlfühlt, braucht sicher nicht zu zügeln.»
Doch neben dem Wunsch, wohnen zu bleiben, wo man alles kennt, beobachtet die Forscherin auch eine Veränderung: «Immer mehr Leute setzen sich aktiv damit auseinander, wie und wo sie in der nachberuflichen Phase wohnen möchten, und optimieren ihre Wohnsituation im Hinblick auf neue Prioritäten.»
Kultur des Umziehens
Das Älterwerden bringe neue Freiheiten. Etwa wenn die Kinder ausgezogen sind oder wenn nach der Pensionierung der Arbeitsweg keine Rolle mehr spielt. Manche ziehen zurück in die Stadt, endlich aufs Land oder in die Nähe der Enkel. Andere wollen Ballast abwerfen und wünschen sich einen Neuanfang in einer gut gelegenen modernen Wohnung, ohne Treppen, dafür mit Lift.
Man diskutiert im Freundeskreis und mit denjenigen, die diesen Schritt schon gewagt haben. Spielt in Gedanken verschiedene Szenarien durch. Gelungene Beispiele regen zum Nachdenken und Nachahmen an. Auch neue Wohnformen wie Cluster-Wohnungen oder Haus- und Wohngemeinschaften (siehe Porträts) seien inspirierend, obwohl sie nur eine kleine Minderheit ansprächen, ist die Expertin überzeugt.
So entstehe neben dem weit verbreiteten Bild des Bleibens auch ein neues: Das einer «Kultur des Umziehens im Alter». Zügeln, weil man will, nicht weil man muss. Zügeln als Gewinn statt als Verlust. Als Investition in die eigene Unabhängigkeit (siehe Interview weiter unten). Als Chance oder Abenteuer gar. Als Weg über mehrere Etappen, der irgendwo im Hinterkopf beginnt, vielleicht über Luftschlösser führt und schliesslich an dem Ort endet, der passt.
Doch wer mit mehr Lebensjahren auf dem Buckel umziehe, überlege sich das bewusster als früher, erklärt Joëlle Zimmerli. Weil Wohnung und Wohnumgebung nach der Pensionierung stärker zum Lebensmittelpunkt werden, sei ein Umzug ein Entscheid von grösserer Tragweite. Es lohne sich deshalb, sich frühzeitig Gedanken über die Zukunft zu machen: «Das schafft mehr Handlungsspielraum.»
Ältere Zügelwillige brauchen somit mehr Informationen. Und mehr Zeit. Doch genau diese fehlt dort, wo der Wohnungsmarkt auf Hochtouren läuft. Besonders kleine, günstige und gut gelegene Wohnungen sind heiss begehrt und oft schon Stunden nach der Ausschreibung im Internet vergeben. Wer lange überlegt, hat bereits verloren.
Mehr zahlen für weniger Fläche
Auch an die heute meist digitalen Prozesse muss sich erst gewöhnen, wer lange keine Wohnung mehr gesucht hat. Und an die Preise. Denn die sogenannten «Angebotsmieten» auf dem Wohnungsmarkt sind deutlich stärker gestiegen als die «Bestandesmieten» langjährig bewohnter Wohnungen. Die Differenz dazwischen bedeutet: Wer nach vielen Jahren zügelt, muss meist mehr bezahlen für weniger Fläche. Verständlich, dass manche da ihre Zügelpläne wieder begraben.
«Lock-in-Effekt» heisst dieser Mechanismus in der Fachsprache. «Er bedeutet, dass man unfreiwillig in einer Wohnung bleibt, weil es kein passendes Angebot gibt», erklärt Joëlle Zimmerli. Die Folgen betreffen alle Generationen: Die Jüngeren finden kaum grosse Familienwohnungen oder Einfamilienhäuser. Und die Älteren riskieren, aus einer wenig altersgerechten Umgebung früher in ein Heim zu zügeln.
Die meisten Leute wünschten sich auch im Alter eine «ganz normale Wohnung», weiss die Sozialwissenschaftlerin: gemütlich, gut gelegen, bezahlbar, möglichst mit Balkon und Aussicht. Entsprechend brauche die grosse Mehrheit auch keine Alterswohnung oder Spezialimmobilien. Sondern einen Wohnungsmarkt, der bereit ist, die Bedürfnisse älterer Menschen besser zu berücksichtigen.
Gemeinsam am runden Tisch
Dafür setzt sich Joëlle Zimmerli theoretisch und praktisch ein. Gemeinsam mit Altersorganisationen und Immobilienbewirtschaftern erarbeitet sie Leitfäden und bittet die Beteiligten an einen runden Tisch. Im gemeinsamen Gespräch lernen Gemeinden, Eigentümerinnen und Eigentümer sowie Liegenschaftsverwaltungen, was sich die wachsende Gruppe der Seniorinnen und Senioren wünscht und dass von einer altersdurchmischten Bewohnerschaft alle profitieren.
Dr. Joëlle Zimmerli
Die Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich seit Jahren mit der Schnittstelle von Gesellschaft und Immobilienwirtschaft sowie dem Thema Wohnen im Alter. Sie ist Dozentin an verschiedenen Hochschulen und Inhaberin des sozialwissenschaftlichen Planungsbüros «Zimraum Raum + Gesellschaft» in Zürich.
Insbesondere bei grossen Anbietern bewege sich etwas. Liegenschaftsverwaltungen vergeben Wohnungen bei der Erstvermietung nicht mehr einfach an die schnellste Bewerbung, sondern berücksichtigen auch spätere Eingänge. Altersgerechte Wohnungen werden auch mal im Quartierblatt ausgeschrieben statt nur online. Oder man macht älteren Mieterinnen und Mietern Umzugsangebote, wenn sie wegen einer Erneuerung umziehen müssen.
Dem Informationsbedürfnis kommt man mit Plakaten auf Baustellen nach, bietet Besichtigungen, Sprechstunden und Kontaktpersonen. Und arbeitet mit Fachstellen der Gemeinde oder sozialen Institutionen zusammen, wenn Mieterinnen und Mieter auf der Suche nach bezahlbaren Wohnungen Unterstützung brauchen.
Dort, wo das Angebot knapp ist, müssten sich aber auch die Suchenden anpassen, betont Joëlle Zimmerli. Ihre Optionen frühzeitig ausloten und die Ansprüche mit der Realität abgleichen. Nicht jedes Budget erlaubt grosse Sprünge. Nicht überall lässt einem der Markt die Wahl.
Wo-Wo-Wohnige? Der Ruf wird wohl nicht so bald verstummen. Daneben hören wir aber hoffentlich auch immer wieder Geschichten des Gelingens. Beispiele von Vermietenden, die ihre Verantwortung wahrnehmen. Von zufriedenen Umgezogenen wie auf den nächsten Heftseiten. Happy Ends statt Schlagzeilen.
Dahause? Zuheim
- Wie möchten Sie im Alter wohnen? Beim Lernspiel «Dahause und Zuheim» setzt man sich zu zweit mit Wohnwünschen und -bedürfnissen auseinander. Die vielfältigen Fragekarten unterstützen bei der Suche nach der passenden Wohnform und regen zum Nachdenken an. Offene Gespräche beim Spielen führen zu überraschenden Einsichten und klären eigene Vorstellungen.
- «Dahause und Zuheim», entwickelt von Pro Senectute, Hochschule Luzern und Gebrüder Frei/die Spielmacher. Informationen unter prosenectute.ch/spiel, Preis CHF 27.–.
Ein aussergewöhnliches Wohntandem
Ein aussergewöhnliches Wohntandem
Susanne Egloff las in der Zeitung von dem Projekt, das Wohntandems aus Senioren und Geflüchteten bildete – und meldete sich sofort an. «Ich fand schon lange, dass meine Wohnung für eine Person zu gross ist, und suchte nach einer sinnvollen, ressourcenschonenden Lösung.»
Die Genossenschaft Zeitgut Luzern und der Verein HelloWelcome vermitteln Wohntandems, von denen beide Seiten profitieren sollen. Der 31-jährige geflüchtete Iraner Hossein Kavose findet im neuen Zuhause endlich die Ruhe, die ihm in seinen vorherigen, oft schwierigen Wohnsituationen fehlte. Bei Susanne Egloff bekommt er Deutschunterricht sowie Einblicke in die Schweizer Kultur. Die 73-jährige Luzernerin erhält im Gegenzug Kochtipps von ihrem Mitbewohner, lernt viel von ihm – und über sich selbst. «Als Hossein einzog, war das eine Bereicherung. Gleichzeitig musste ich mich einschränken, von vielen Dingen loslassen. Es ist ein Geschenk, das auf diese Weise zu lernen.»
Die Dienststelle für Asyl- und Flüchtlingswesen war anfangs nicht einverstanden mit der Wohnform. «Es ist nicht vorgesehen, dass jemand, der im Asylverfahren steckt, einen eigenen Wohnsitz hat», erklärt Egloff. Und auch die Reaktionen aus dem Umfeld der beiden waren gemischt. Bei Hossein Kavose lagen Freud und Neid seiner Kollegen nah beieinander. Susanne Egloff erzählt: «Manche Leute befürchteten eine Gefahr, nannten mich mutig.» Sie selbst ist überzeugt, dass man sich nur durch Begegnung kennenlernen kann. «Es lohnt sich, offen zu sein für Neues. Ich bin ein Mensch, der gerne dazulernt – bis es nicht mehr geht.» (jpr)
Infos zum Projekt Wohntandem unter zeitgut-luzern.ch und hellowelcome.ch
La vita è bella im ersten Stock
Luigi Agosto traute dem neuen Mietzins erst, als er ihn auf dem Wohnmietvertrag bestätigt sah: 739 Franken. Nie hätte sich der damals 72-Jährige erträumt, dass er und seine gleichaltrige Frau in der Stadt Basel eine Wohnung erhalten würden, die günstiger sein würde als die alte. Das war vor sechs Jahren. «Gott sei Dank haben wir diese Wohnung erhalten», sagt Eufrasia Agosto. Den Umzug ermöglichte das Projekt «Sicheres Wohnen im Alter» von Immobilien Basel-Stadt (IBS), das auch Liegenschaften der Pensionskasse Basel-Stadt und der Gebäudeversicherung Basel-Stadt verwaltet. Das Ehepaar aus der Nähe Napolis, das damals seit 1984 in derselben Basler Altbauwohnung gelebt und dort drei Kinder grossgezogen hatte, gehörte 2017 zu den Ersten, die auf einen von IBS erhaltenen Brief eingingen. Eine Tochter unterstützte sie. Vergeblich hatten sie nach einer bezahlbaren neuen Bleibe gesucht – der alten stand eine Komplettsanierung bevor.
«Sicheres Wohnen im Alter» richtet sich an über 65-Jährige, die in einer von IBS und deren Partner verwalteten Immobilie leben und in eine mindestens 10% kleinere Wohnung umziehen möchten. Die Belohnung ist eine altersgerechte Wohnung mit einem «Seniorenrabatt»: beim Ehepaar aus Kampanien 671 Franken. Eufrasia und Luigi Agosto schätzen das neue ruhige Quartier, die grüne Umgebung und die Nähe zur Bushaltestelle. Statt 94 Treppenstufen in den vierten Stock müssen sie nun bloss eine Etage meistern. Dass sie mehr Komfort, aber keinen Geschirrspüler haben, stört Eufrasia Agosto nicht. «Kein Platz! Wo soll ich sonst mit all meinen Pfannen hin?!» (fro)
Infos: immobilienbs.ch
Gemeinschaft mit Privatsphäre
Dorothy Aellen zog vor einem halben Jahr innerhalb von Basel ins Westfeld um – ihr neues Daheim mit 86. Statt einer 3-Zimmer-Wohnung ist es nun ein Studio mit zwei Zimmern, Teeküche und Bad – Teil des «Gemeinschaftswohnen», ein Angebot des BSB (Bürgerspital Basel). Wo sie weiter ihre Privatsphäre hat, aber auch in einer Gemeinschaft lebt. Die Bewohnenden der 17 Studios teilen sich u. a. Essbereich, Aufenthaltsraum und Terrasse. Zum Service gehören z. B. alle Mahlzeiten, Aktivitäten, Betreuungsperson am Tag und 24-stündige Notrufbereitschaft.
Eine Mischung, die ihr sehr zusagt, fühlte sich die gebürtige Britin zuvor zunehmend einsam. Hinzu kam, dass sie sich mehr Entlastung im Alltag wünschte und ebenso mehr Absicherung, falls ihr etwas zustossen sollte. «So sind auch meine Enkel, die in der Nähe leben, ganz beruhigt.» Sie habe sich gut eingelebt, schätze die gemeinsamen Mittagessen, Kaffeetreffs und Ausflüge. «Die Kontakte tun mir gut», meint Dorothy Aellen, die es liebt, an ihrer Nähmaschine an Patchworkdecken zu arbeiten, zudem gern liest und spazieren geht. «In den Zolli zieht es mich oft – es ist so schön dort!»
Obwohl es schwerfiel, sich nach dem Umzug in die Schweiz 2018 nochmals zu verkleinern und sich von vielen Dingen zu verabschieden, fühle sie sich angekommen. Denn Dorothy Aellen, die mit einem Solothurner verheiratet war, mit ihm aber in Manchester lebte, wollte schon immer in die Schweiz ziehen. «Mit 80 erfüllte ich mir endlich diesen Traum!» (mah)
Infos zu «Wohnen mit Service»in Basel unter bsb.ch/wohnen/mit-service-im-alter
«Die Seele kommt später an als die Möbel»
Zügeln ist Abschied, Neuanfang oder Investition in die Zukunft – und weit mehr als ein Umzug des Hausrats von A nach B.
Lesen Sie hier das Interview mit Dr. Antonia Jann
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