Zügeln ist Abschied, Neuanfang oder Investition in die Zukunft – und weit mehr als ein Umzug des Hausrats von A nach B.
Text: Annegret Honegger
Zügeln verbindet man eher mit jungen Leuten. Weshalb?
Dr. Antonia Jann: Gemäss Zügelstatistik ziehen die meisten Menschen Ende zwanzig um. Mit dem Wohnungswechsel beginnt oft eine neue Lebensphase, etwa weil man eine Familie gründet. Noch weniger selbstverständlich ist, dass heute mit dem Ende der Familien- und Arbeitszeit nochmals etwas Neues beginnt: Ein Lebensabschnitt von etwa zwei Jahrzehnten, den es zu gestalten gilt.
Am besten in einer neuen Wohnung?
Nicht unbedingt. Aber biografische Veränderungen sind ein guter Anlass, sich zu überlegen, ob sich die bisherige Wohnung und das Umfeld für die nächste Phase eignen oder ob ein Neuanfang von Vorteil sein könnte. Je früher man plant, desto mehr Optionen hat man. Eine Art Risikoanalyse kann verhindern, dass man unvorbereitet und unfreiwillig umziehen muss.
Welche Risiken meinen Sie?
Da mit dem Älterwerden oft Einschränkungen auf uns zukommen, gehören Treppen dazu, eine schlechte Anbindung an den Verkehr, wenig Einkaufsmöglichkeiten und soziale Kontakte. Auch ein altes Haus, das vielleicht saniert werden muss, stellt ein Risiko dar.
«Ein Umzug ist ein langer Weg mit Hindernissen.»
Eine Züglete kostet aber auch viel Kraft.
Tatsächlich ist ein Umzug ein langer Weg, auf dem man immer wieder Hindernisse überwinden und sich anpassen muss. Oft vergeht nur schon bis zum Entschluss viel Zeit, das habe ich erst kürzlich bei meiner Mutter erlebt. Sie spürte zwar, dass sie in ihrer eher abgelegenen Liegenschaft mit den vielen Treppen und der Waschmaschine im Keller zunehmend isoliert war. Gleichzeitig war sie dort verwurzelt, auch wegen der Erinnerungen an meinen Vater. Den Ausschlag zum Zügeln gab schliesslich, dass sich eine Enkelin für die Wohnung interessierte.
Wie ging es weiter?
Auf eine Alterswohnung hätte sie mehrere Jahre warten müssen. So meldete sie sich in einem Altersheim an, weil sie fand, in ihrem Alter zügle man doch nicht mehr in eine neue Wohnung … Gleichzeitig unterstützten wir sie, sich auch «ganz normale» Wohnungen anzuschauen. Diese waren jedoch meist vergeben, bis sie sich meldete. So erfuhr sie einerseits, wie hoch das Tempo auf dem heutigen Wohnungsmarkt ist. Andererseits lernte sie, was sie wollte und wo sie bereit war, ihre Ansprüche anzupassen. Heute lebt sie glücklich in einer bezahlbaren, gut gelegenen 2,5-Zimmer-Wohnung mit Lift.
Ende gut, alles gut?
Absolut, aber eine Züglete ist auf verschiedenen Ebenen herausfordernd. So bedeutet eine langjährige Wohnung zu verlassen immer auch einen Abschied von einem ganzen Leben. Etwa wenn es um die «Triage der Erinnerungen» geht, um all die Dinge, an denen das Herz hängt. Was kann ich mitnehmen? Was muss ich weggeben? Schön ist, wenn der Abschied würdevoll erfolgen kann, Schritt für Schritt. Wenn nicht alles einfach in einer Mulde landet, sondern an Menschen und Institutionen geht, die es brauchen und wertschätzen.
Was erwartet einen am neuen Ort?
Auch hier gibt es Schwierigkeiten, die banal erscheinen, aber gar nicht trivial sind. Etwa die Technik zu meistern: den neuen Backofen, die Waschmaschine, den Fernseher. Zudem fällt mit dem Zügeln die sogenannte subtile Teilhabe auf einen Schlag weg.
«Es geht um all die Dinge, an denen das Herz hängt.»
Was ist das?
Ganz alltäglich Selbstverständliches wie die Bekannten, mit denen man beim Einkaufen ein paar Worte wechselt. Die Nachbarn, die Turngruppe, die Hausärztin … Die täglichen Wege und Routinen sind wie ein Netz an Vertrautem, das mit den Jahren wächst. All das gilt es am neuen Ort erst wieder aufzubauen. Die Seele kommt meist erst ein paar Monate nach den Möbeln an.
Lohnt sich die Anstrengung?
Auch in neuen vier Wänden kann man wieder ein Gefühl des Aufgehoben- und Zuhauseseins entwickeln. Und wenn ein Umzug ermöglicht, länger selbstständig zu wohnen und später oder gar nicht in ein Heim zu ziehen, ist dies eine Investition in die eigene Selbstständigkeit und Zukunft. Rechnet man die hohen Heimkosten ein, die man spart, lohnt sich ein Wechsel in eine teurere, aber altersgerechte Wohnung trotzdem. Wird dadurch Wohnraum für andere Generationen frei, umso besser.
Wo gibt es Hilfe?
Schwierige Phasen gehören dazu. Deshalb ist Unterstützung sehr wichtig – praktisch beim Zügeln und Einrichten und moralisch von der Planung bis zum Einleben. Neben Familie und Freunden können auch soziale Organisationen als eine Art «Zügel-Buddy» und Begleiter wirken.
Dr. Antonia Jann
Die Gerontologin war langjährige Leiterin der Age Stiftung mit Schwerpunkt «Wohnen und Älterwerden». Heute begleitet sie als Coach und Organisationsberaterin in ihrer Praxis in Zürich Unternehmen, Teams und Einzelpersonen bei Strategie- und Veränderungsprozessen und hat sich auf Fragestellungen spezialisiert, die Menschen in der zweiten Lebenshälfte beschäftigen.