Aufhören? Weshalb auch?!
Im Juli fand in Finnland die Leichtathletik-WM der 35- bis 100-Jährigen statt – mit 4600 Teilnehmenden. Für die Schweiz mit am Start: der 70-jährige Pino Pilotto und die 75-jährige Margaritha Dähler-Stettler. Nicht nur im Sport sind die beiden nicht so schnell zu stoppen.
Text: Fabian Rottmeier, Fotos: Alex Rotas
World Masters Athletics. Der Name klingt nach Ruhm, Stars und Applaus. Als Pino Pilotto am 2. Juli 2022 im finnischen Tampere zu seinem ersten Versuch im Hammerwurf schreitet, jubelt niemand. Einzig ein italienischer Sportskamerad schaut zu, weil er den Wurf für den 70-Jährigen filmt. Pilotto schleudert die Kugel 32,05 Meter weit – sein schlechtestes Resultat der Saison. Es ist die erste Disziplin des Wurf-Fünfkampfs an den 24. World Masters Athletics, wie die Leichtathletik-Weltmeisterschaften für über 35-jährige Amateure heissen.
Pilotto wird in seiner Alterskategorie 13. Ein mittelmässiges Resultat, wie er selbst sagt. Und doch ist seine Leistung auch ein Sieg. Er lässt es sich trotz Schmerzen nicht nehmen, die Hälfte seiner gebuchten Disziplinen zu absolvieren (Teilnahmegebühren total: 600 Euro). Sein kürzlich operierter kleiner linker Zeh ist stark entzündet. Nicht anzutreten, wäre schmerzhafter gewesen, gesteht er. Er schont den Zeh, indem er an der entsprechenden Stelle kurzerhand ein Loch in seinen Wurfschuh schneidet (siehe rechtes Foto unten).
Pino Pilotto, 70, aus Luzern, ehemaliger Architekt und Berufsschullehrer. Verein:
LC Luzern. WM-Disziplinen 2022: Wurf-Fünfkampf, Diskuswurf, Gewichtweitwurf, Kugelstossen
© Alex Rotas
Ein solch starker Wille zeichnet auch Margaritha Dähler-Stettler aus, die in Tampere ebenfalls teilnimmt – wie immer seit 1984, wenn allzweijährlich eine Freiluft-WM stattfindet (2023 folgt eine Hallen-WM). Die 75-Jährige bildet mit Pino Pilotto die Teamleitung für die rund 30 Teilnehmenden aus der Schweiz. Und auch sie lässt sich in der Regel nicht so rasch ausbremsen. Als sie mit 30 Jahren ihr erstes von zwei Kindern per Kaiserschnitt zur Welt bringt, joggt sie nach zwei Wochen wieder (für den Weitsprung wartet die Stadtbernerin vier weitere Wochen). 52-jährig verunfallt sie unverschuldet mit ihrem Motorrad, verletzt sich schwer am Knie – und rechnet wenige Sekunden nach dem Sturz aus, ob es trotzdem für die nächste EM reichen könnte.
«Ich bin mein Leben lang gerannt», sagt sie. Als Mädchen sprintete sie aus Zeitnot zur Schule, später aufs Tram (mit einem Sprung aus dem Küchenfenster), und in den 60er-Jahren als junge Athletin über 100 Meter und im Weitsprung bis an die nationale Spitze. 2023 wird sie zum 60. Mal in Folge eine Wettkampflizenz beim nationalen Leichtathletikverband lösen. Es dürfte ein Rekord sein.
Pino Pilotto fand erst mit 50 Jahren wieder zur Leichtathletik. Als Jugendlicher hätte er gerne mehr Sport getrieben, als es sein Vater erlaubte. So begann er nach einer Midlifecrisis mit Kugelstossen – und entdeckte später den Zehnkampf für sich. «Ich neige grundsätzlich dazu, immer von allem zu viel zu machen.» Sein Rekord: 20 Disziplinen an einem Wettkampftag! Als 50-Jähriger kam er sich zuerst etwas lächerlich vor in einem Sportdress. Die jungen Athleten nahmen ihn jedoch wohlwollend auf.
Mit Medaillen den Kritikern getrotzt
Margaritha Dähler-Stettler hat auch andere Erfahrungen gemacht. Schon mit 30 stellten einige Mitsportler die Frage, ob sie nicht besser Jüngeren Platz machen sollte. Und ein Arzt fragte einst, ob sie persönliche Probleme habe – weil sie noch immer Sport trieb. Dabei erzielte sie mit 40 Jahren die besseren Zeiten als mit 20 und gewann unter anderem 1989 WM-Gold im Siebenkampf. Ihr grösster Titel. «Medaillen waren mir jedoch nie wichtig», sagt sie. Aber sie seien immer ein gutes Mittel gewesen, um Kritikern den Mund zu stopfen. Um die hundert «Plämpu» hat sie an internationalen Wettkämpfen errungen. Bei den Seniorinnen ist sie 40-fache Europa- und Weltmeisterin. Mittlerweile begegne man ihrer Leidenschaft mit Bewunderung, sagt sie. Wer sie trifft, denkt: Sport hält jung.
Margaritha Dähler-Stettler, 75, aus Bern, ehemalige kaufmännische Angestellte. Verein: Gymnastische Gesellschaft Bern. WM-Disziplinen 2022: Dreisprung, Weitsprung, Hammerwurf, Siebenkampf, Wurf-Fünfkampf
© Alex Rotas
In Tampere kämpft Margaritha Dähler-Stettler beim Siebenkampf nicht um Medaillen. Die sind ihr egal. Anerkennung bedeutet heute, zu wissen, dass ihr Körper noch vieles leisten kann. Sie schätze sich glücklich, dass sie noch «so zwäg» sei. Sie denkt nie an ihr Alter, wenn sie Sport treibt. Körperlicher Abbau und abnehmender Ehrgeiz machen sich aber auch bei ihr bemerkbar. Zu ihren Disziplinen gehören Hürdenlauf, Kugelstossen, Hoch- und Weitsprung, 200- und 800-Meter-Lauf sowie Speerwurf. Den Hürdenlauf bricht sie nach zwei Hürden ab. Sie war an einer Hürde hängengeblieben und bloss angetreten, um in der Gesamtwertung nicht disqualifiziert zu werden. Auch die Weitsprünge misslingen. «Meine Tochter sprang mit sechs Jahren weiter!» Margaritha Dähler-Stettler schämt sich am Ende ein wenig für ihre Leistungen, als sie wieder heimreist. Sie wird 6. von 7.
«Bei uns regnet es Medaillen!»
Das schöne Paradoxon der Senioren-Wettkämpfe: Alle fünf Jahre, beim Kategorienwechsel, gehört man wieder zu den Jüngsten. So auch Dähler-Stettler nächstes Jahr. «Bei uns regnet es Medaillen!», kommentiert Pino Pilotto die Vielzahl der Alterskategorien. In Tampere nehmen rund 4600 Athletinnen und Athleten aus aller Welt teil – heuer bis zur Altersklasse der über 95-Jährigen. Kein Wunder, umfasst das Resultatblatt 317 Seiten! Auf der Bühne für die Siegerehrung vor dem Leichtathletik-Stadion ertönt fast permanent eine Nationalhymne. Die Schweiz holt sechs Medaillen, darunter eine in der Kategorie 75+. Wie bemerkenswert die erzielten Leistungen sind, zeigt das sogenannte «Age Grading». Dank dieser Umrechnungshilfe lassen sich die Zeiten der «Masters» mit jenen von Profis vergleichen. Der deutsche Läufer Hartmut Krämer knackt in Tampere in der Kategorie 80–85 mit 14,31 Sekunden über 100 Meter einen 25 Jahre alten Weltrekord. Der Alterskalkulator spuckt dafür umgerechnet 10,07 Sekunden aus – eine Hundertstelsekunde unter der Schweizer Bestmarke von Profi Alex Wilson.
© Alex Rotas
Gemäss einer Studie der Universität Zürich verhindert Sport in der Schweiz jährlich 3300 Todesfälle. Es ist allgemein bekannt, dass Sport auch im Alter gesund ist. Wissenschaftlich erwiesen ist jedoch weit mehr. So beschrieb Achim Conzelmann, Professor am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern, in einem Interview mit der «Berner Zeitung», dass die Leistungsfähigkeit im Alter zwar abnehme, aber der erreichbare Leistungszuwachs mit 70 ähnlich hoch sei wie mit 20. Dabei spiele auch die sportliche Vorgeschichte nur eine untergeordnete Rolle. Sprich: Es ist nie zu spät, um mit Kraftübungen oder Ausdauersport zu beginnen. Sport kann den Alterungsprozess nicht aufhalten, aber verlangsamen, und senkt etwa das Risiko für Kreislauferkrankungen oder Schlaganfälle. Eine Studie bewies, dass selbst Muskeln von 90-Jährigen positiv auf Krafttraining reagieren.
© Alex Rotas
Doch braucht es dazu auch Wettkämpfe? Wer schon einmal an einem grösseren Sportanlass teilgenommen hat, weiss, welch positive und inspirierende Energie dabei in der Masse entstehen kann. Es hat etwas Lebensbejahendes, wenn der 98-jährige Finne Pekka Penttilä seinen 100-Meter-Lauf rennt, obwohl er der einzige Teilnehmer ist in seiner Kategorie.
Pino Pilotto sah Wettkämpfe immer als ein «Miteinander» statt «Gegeneinander», will seinen Einsatz aber nicht als Plausch missverstanden haben. Die Kollegialität unter den Mehrkämpfern sei gross. «Diese Wettbewerbe tun mir gut, ich fühle mich akzeptiert.» Jünger fühlt er sich dabei nicht. «Ich bin ein alter Mann, der Sport treibt – und dabei auch so aussieht. Und das ist völlig okay so!» Dann wird der gebürtige Altdorfer philosophisch: «Der Gewinn beim Sport ist für sich selbst am grössten – weil man handelt.» Er könne zu Hause sitzen und hadern, dass er alt werde, oder nach draussen gehen und sich freuen, dass er noch Kugeln stossen oder Tennis spielen kann.
Lust auf Sport bekommen?
Pro Senectute ist der hierzulande grösste Sportanbieter für Seniorinnen und Senioren. Die kantonalen und interkantonalen Organisationen bieten täglich schweizweit 450 Bewegungslektionen an – von Aquafit über Tanzen bis zu GymFit und Wandern. Die einzelnen Kurse lassen sich bequem auf prosenectute.ch/kurssuche finden. Telefonische Hilfe bei der Kurssuche: 044 283 89 89.
Was Pino Pilotto ebenfalls mag am Sport: dass dieser das Alter nicht verklärt, sondern anhand der Leistungen realistisch aufzeigt. Seine Motivation bleibt das Sich-Messen mit anderen – und mit sich selbst. «Ich kann immer einen Sieg erringen, indem ich meine persönliche Bestleistung überbiete.» Die «PB» sei das Salz der Leichtathletik, so Pilotto. Und helfe nebenbei gut, um den eigenen körperlichen Zerfall und die Leistungseinbussen etwas auszublenden. Die gute Nachricht: Der Kategoriewechsel alle fünf Jahre bedeutet auch, dass man als älterer «World Master» immer wieder eine neue Rekordmarke setzen darf.
© Alex Rotas
Niemand wusste dies besser zu nutzen als Olga Kotelko. Die Kanadierin gilt als grösste Seniorensport-Legende aller Zeiten. Sie begann erst mit 77 Jahren, sich der Leichtathletik zu widmen – und blieb bis kurz vor ihrem Tod 2014 aktiv. Die 95-Jährige hatte über 30 Weltrekorde erzielt und rund 750 Goldmedaillen gesammelt. Trotzdem vertrat sie bescheidene sportliche Credos, wie das Buch «What Makes Olga Run?» zusammenfasst: Feiere auch die kleinen Siege. Tu nur, was alleine und an einem Durchschnittstag machbar scheint. Und sie sagte: «Sportliche Betätigung ist kein Luxus, sondern der Schlüssel, um gesund zu altern.»
Auch für die mentale Gesundheit ist Sport wichtig
Für den Vizepräsidenten (Pilotto) und die Aktuarin (Dähler-Stettler) des Vereins Swiss Masters Athletics steht ausser Frage, dass bereits regelmässige moderate Bewegung auch psychisch gut tut. Seit Pino Pilotto oft Sport treibt, sind seine manisch-depressiven Phasen seltener geworden. Dass beide ihre Zufriedenheit nicht (mehr) an Rängen messen, hat auch mit ihren Schicksalsschlägen zu tun: Margaritha Dähler-Stettler erkrankte mit 57 Jahren an Lymphdrüsenkrebs, Pino Pilotto mit 62 Jahren an Nierenkrebs. So unbeirrt wie auf der Tartanbahn stellten sie sich auch ihrer Diagnose. Dähler-Stettler setzte ihre Bestrahlungstermine stets während der Mittagspause an, nahm weiterhin an Wettkämpfen teil – und Pilotto läutete nach einer langen Operation mit Komplikationen kurzerhand sein neues Sport-Kapitel ein: statt «PB» wollte er neue Werte setzen in der Kategorie «PC», «post cancer». Noch heute muss er alle zwei Wochen vorsorglich zur Chemotherapie. Den Sport liess er sich trotzdem nie nehmen.
Im Jahr 2002 besucht Pino Pilotto zum ersten Mal die Hammerwurf-Trainingsgruppe. Er ist mit 50 Jahren fast halb so jung wie der Erfahrenste. Sein Trainer, ein ehemaliger Spitzenathlet, nimmt ihn zu sich und sagt, dass er in 20 Jahren auch einmal Weltmeister werden könne, wenn er sich gut entwickle. Neuling Pino entgegnet: «Gut, dann komme ich dann wieder.» Weltmeister ist Pino Pilotto – im Gegensatz zu Margaritha Dähler-Stettler – nie geworden. Es war aber auch nie sein Ziel. Triumphe gibt es auch andere. Seine Kollegin würde ihm beipflichten.
«Ich möchte das Alter feiern»
Die englische Sportfotografin Alex Rotas zeigt mit ihren Bildern ein positives Altern – und sagt, weshalb sie für die Zeitlupe in Tampere keine runzligen Hände fotografieren wollte. Zum Interview.
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