«Die Sexualität von älteren Menschen wird tabuisiert»
In dieser Ausgabe starten wir mit einer neuen Rubrik zum Thema Liebe und Sexualität, verfasst von der Sexualmedizinerin und Gynäkologin Eliane Sarasin. Hier stellt sich unsere Expertin vor.
Interview: Claudia Senn
Eliane Sarasin, warum ist es so schwierig, über Sex zu sprechen? Weil wir in unserer Sexualität ganz besonders verletzlich sind. Auch selbstbewusste Menschen, die im Beruf regelrechte Überflieger sind, können sich beim Sex sehr unsicher fühlen. Bei der älteren Generation kommt hinzu, dass sie in einer Zeit aufgewachsen ist, in der die Sexualität mit vielen Verboten belegt war. Bevor es die Pille gab, lebten die Frauen in ständiger Angst vor einer Schwangerschaft. Homosexualität war illegal, ebenso das Konkubinat. Sex war etwas, das man im Verborgenen lebte. Das änderte sich erst mit der sexuellen Revolution in den 1960er-Jahren und mit den HIV-Aufklärungskampagnen Ende der 80er. Als Charles Clerc damals in der Hauptausgabe der «Tagesschau» ein Präservativ über seinen Finger rollte, war das noch ein Skandal. Seither ist einiges in Bewegung gekommen.
«Am Anfang kamen mir Wörter wie Selbstbefriedigung kaum über die Lippen.»
Sie sind ursprünglich Gynäkologin und Brustkrebs-Spezialistin. Was hat Sie dazu bewogen, eine Zusatzausbildung als Sexualmedizinerin zu machen? In meiner Praxis begegneten mir häufig Frauen, die über Lustlosigkeit klagten und sich Sorgen machten, ihre Beziehung könnte daran zerbrechen. Ich konnte dann vielleicht sagen: Ja, das kenne ich auch. Doch darüber hinaus hatte ich nicht viel zu bieten. Während des Studiums lernten wir zwar einiges über Geschlechtskrankheiten oder sexuelle Funktionsstörungen. Doch die Auswirkungen solcher Schwierigkeiten für die Betroffenen und die damit verbundenen Gefühle wie Scham, Angst oder gar Ekel blieben komplett aussen vor.
Heute gehört es für Sie zum Alltag, über intimste Dinge zu sprechen. Fällt Ihnen das leicht? Ich musste es auch erst lernen. Am Anfang kamen mir Wörter wie Selbstbefriedigung kaum über die Lippen. Also habe ich mir «mein» Vokabular zurechtgelegt, mit dem ich mich wohlfühle, und das Sprechen über Sexualität geübt wie eine Fremdsprache.
Was ist für Sie «guter Sex»? Es braucht dafür keinen harten Penis, keine Turnübungen à discrétion und auch nicht unbedingt einen Orgasmus. Guter Sex heisst für mich: sich zeigen zu können und sich vom anderen angenommen zu fühlen. Zu seinen Vorlieben und Tabus stehen zu dürfen, ohne Angst, abgewertet zu werden. Aber sich auch gegenseitig liebevoll ermuntern zu dürfen, Neues auszuprobieren.
In Filmen sieht man fast nie ältere Paare beim Sex. Woran liegt das? Die Sexualität von älteren Menschen wird in unserer Gesellschaft tabuisiert. Wenn wir ein altes Paar Händchen halten sehen, denken wir vielleicht: Jöööh, die sind aber süss! Doch dass die beiden gleich nach Hause gehen und dort leidenschaftlich übereinander herfallen könnten, wollen wir uns lieber nicht vorstellen. Unsere Gesellschaft scheint kein Konzept für Sex mit Falten und Altersgebrechen zu haben. Als vor einigen Jahren der Film «Wolke 9» ins Kino kam, in dem Sexszenen zweier über 70-Jähriger zu sehen sind, schrieben manche Medien: Darf man so etwas zeigen?
«Gesellschaftlich wird uns oft vermittelt, dass Sex für die Ü70-Generation kein Thema mehr sei. Eine Mehrheit der Älteren ist aber durchaus an Sex interessiert.»
Woher kommt der Widerwille, nackte ältere Körper anzuschauen? Der unverhüllte alte Körper führt uns unsere eigene Endlichkeit sehr deutlich vor Augen. Wir tabuisieren ja nicht nur das Thema Sex im Alter, sondern auch den Tod. Sogar die Firma Pfizer warb früher mit Bildern von jüngeren Pärchen für ihre Potenzpille Viagra – als ob sie die Zielgruppe wären. Ist das nicht absurd?
Nun machen das Alter und die damit einhergehenden Einschränkungen die Sexualität tatsächlich komplizierter. Wie sexuell aktiv ist die ältere Generation noch? Gesellschaftlich wird uns oft vermittelt, dass Sex kein Thema mehr für die Ü70-Generation sei. Doch die Realität zeigt ein anderes Bild. Zahlreiche Studien belegen, dass sexuelle Aktivitäten im Alter zwar abnehmen, doch meist ist das unfreiwillig. Bei den Frauen ist der Hauptgrund die Tatsache, dass sie keinen Partner mehr haben. Bei den Männern sind es eher Funktionsstörungen. Eine Mehrheit der Älteren ist durchaus an Sex interessiert und hätte gerne mehr davon.
Was ist mit den anderen? Kann man auch ohne Sex glücklich sein? Absolut. Sexualität ist etwas, das zum Glück beitragen kann. Es kann aber auch zum Unglück beitragen. Viele Paare, die früher Sex miteinander hatten, hören irgendwann damit auf und müssen deshalb nicht weniger glücklich sein.
Persönlich: Eliane Sarasin (60) ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt in einer Beziehung.
Den ersten Beitrag unserer neuen Rubrik «Bettgeschichten» lesen Sie hier.
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