Das soziale Netzwerk Tiktok hat die Welt im Sturm erobert. Doch was zeichnet dieses trendige Medium aus?
Angefangen hat alles ganz harmlos. Es war einmal eine App, die hiess Musical.ly. Sie hatte ihr kleines Schloss in Schanghai, aber auch ein Schlösschen im kalifornischen Santa Monica. Dank ihr konnten kleine und später auch grosse Prinzessinnen kurze Videos zu ihren Lieblingsliedern anfertigen. Sie spielten den Song im Hintergrund ab, während sie sich häufig heftig geschminkt als «Sängerinnen» in Szene setzten. Auf Neudeutsch nennt man dies Lipsyncing, was so viel wie Lippensynchronisation meint.
Die 2014 geborene App wuchs und wuchs, bis sie Ende Mai 2017 über 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer hatte. Dann wurden die tanzenden Prinzessinnen im November 2017 «gefressen». Die chinesische Firma Bytedance soll 1 Milliarde Dollar dafür bezahlt haben und verschmolz Musical.ly im Jahr darauf mit der Plattform Tiktok.
Und heute? Tiktok ist ein «Monster». Im September verkündete die Plattform, dass sie von über einer Milliarde Menschen weltweit genutzt wird. In einem endlosen Strom von Videoclips von 15 bis 60 Sekunden Länge produziert sich Jung und zunehmend auch Alt vor der Kamera. Der Mix ist bunt. Von unzähligen Tanzvideos über Kochinstruktionen bis zu gefährlichen Stunts findet sich alles. Besonders Letzteres hat Tiktok in Verruf gebracht, weil sich vor allem Teenager angestachelt fühlen, die Akrobatikeinlagen nachzuahmen, und sich dabei schwer verletzen.
Es geht um Extreme
Ziel von Tiktok-Nutzerinnen und -Nutzern ist es, möglichst viele Fans – sogenannte Followers – aufzubauen. Wer durch die nie endende Flut von Videos streift, begegnet endlosen Varianten von aufgebrezelten und an strategischen Stellen silikonisierten jungen Frauen – gertenschlank, mit üppigen Oberweiten und ebensolchen Lippen. Diese entblössen oft gerade so viel Haut, wie der wachsame Algorithmus noch zulässt. Ähnlich sieht es bei den Fitness-Clips aus. Hier werden laufend neue «Herausforderungen» online gestellt, deren gesundheitlicher Nutzen manchmal fragwürdig ist. Und dann gibt es natürlich die Tierli-Videos. Hier werden putzige Flughörnchen vorgeführt, Schäferhunde, die an einen Baumstamm hochspringen und sich in drei Meter Höhe an einem Strick ziehen und … und …
Kurz zusammengefasst: Es geht um Extreme. Denn wie überall gilt auch hier: Wer aus der Masse – eine Milliarde Menschen sind auf Tiktok unterwegs – herausragen will, muss etwas Aussergewöhnliches zu bieten haben. Entweder man ist bereits ein Star wie Schauspieler Tom Cruise oder man wagt sich an die Grenzen des gesunden Menschenverstandes. Für das Magazin «Beobachter» war ich während einer Woche auf Tiktok unterwegs (mehr dazu hier). Dabei habe ich festgestellt, wie schnell sich der Algorithmus bemerkbar macht: Wenn ich etwas länger auf einem Video verweilt bin, habe ich in der Folge mehr Clips aus dieser Gattung erhalten. Diese Auswahl und die teils immer extremer werdenden Inhalte bauen einen Druck auf die Konsumentinnen und Konsumenten von Tiktok auf. Konsumenten deshalb, weil längst nicht alle willens oder in der Lage sind, entsprechende Inhalte selber zu erstellen. Das gleiche Phänomen, das bereits von Facebook und Instagram bekannt ist, stellt sich auch bei dieser schnelllebigen Video-Plattform ein: Zusehends fühlt man sich minderwertig, weil man mit dem Gezeigten nicht mithalten kann.
Im Vergleich zu den gängigen sozialen Netzwerken hat Tiktok aus meiner Sicht als über 50-Jähriger wenig zu bieten, was andere nicht schon besser abdecken. Wenn es um Kochrezepte geht, ist Youtube überlegen. Selbstinszenierung findet bereits auf Instagram statt und wer sich weltweit nicht bloss zur Schau stellen, sondern vernetzen will, kann dies auf Facebook oder bei den Berufstätigen auf Linkedin tun. ❋
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