Raus aus dem Alltag, um Neues auszuprobieren – diesmal: Claudia Senn wandelt auf den Spuren von Zürichs schillerndsten Verbrechern.
Krimis lese ich nur, wenn mich die Figuren packen. Der «Tatort» lässt mich vollends kalt. Und auch Netflix habe ich abgestellt, weil mir die unzähligen Serienkiller, Drogenbarone und Axt schwingenden Soziopathen auf die Nerven gehen. Mein Leben ist aufregend genug. Ich brauche keinen Zusatz-Thrill durch künstlich erzeugte Spannung.
Für reale Verbrechen interessiere ich mich hingegen durchaus. Deshalb hat mich dieser Stadtrundgang gleich angesprochen. Hier geht es um echte Tatorte, in meiner beschaulichen Heimatstadt, wo es schon fast als Verbrechen gilt, das Altpapier-Bündel am falschen Wochentag vor die Tür zu stellen.
Gemeinsam mit 15 anderen stehe ich zur verabredeten Zeit im HB Zürich. Felix, unser Guide, führt uns als Erstes zum Sihlquai. Zwischen 1986 und 2007 verschwanden hier zehn Frauen, die sich auf dem Strassenstrich prostituierten, darunter auch Irene H. Ihr Handy wurde zuletzt in Sihlbrugg geortet. Über ein Jahr lang tappte die Polizei im Dunkeln, so erzählt uns Felix, dann wurde ein Freier, der auf dem Hirzel wohnte, der Vergewaltigung an einer anderen Frau angeklagt. Die Spurensicherung untersuchte den Hof des Landwirts und fand dabei die Leiche von Irene H. Von den neun anderen Frauen fehlt bis heute jede Spur. Um das Leben der Prostituierten sicherer zu machen, verlagerte die Stadt den Strassenstrich im Jahr 2012 schliesslich nach Altstetten, wo es nun die ebenso nüchternen wie zweckdienlichen «Verrichtungsboxen» mit Alarmknopf gibt.
Um Aufmerksamkeit muss Felix bei uns nicht kämpfen. Mit voller Konzentration hängen wir an seinen Lippen und lauschen den wahren Kriminalfällen. Zum ersten Mal höre ich von den Lokalgangstern Ernst Deubelbeiss und Kurt Schürmann, die die Stadt in den 50er-Jahren mit Wildwest-Methoden in Atem hielten. Vom Scheiterhaufen an der Sihl, auf dem im Mittelalter 79 Hexen verbrannt wurden, die meisten von ihnen unbescholtene alleinerziehende Frauen vom Land. Vom Raub in der Sihlpost im Jahr 1994, der in Vergessenheit geriet, weil jener in der Fraumünsterpost drei Jahre später noch spektakulärer war. Ist das alles spannend? Und wie. Weil es nicht bloss der Fantasie eines Drehbuchautors entsprungen ist, sondern dem echten, wahren Leben.![]()