Stroh – das Gold des Onsernone-Tals
Altes Handwerk in neuer Blüte
Das Tessiner Onsernone-Tal war weltbekannt für seine Strohhüte. Einheimische haben das alte Handwerk wiederbelebt – und werden dafür gelobt und gepriesen.
Text: Roland Grüter
Wie eigen die Menschen im Tessiner Onsernone-Tal ticken, zeigt sich am Kirchturm von Berzona. Auf dem Zifferblatt der Turmuhr steht dort, wo eigentlich eine Acht sein müsste, eine zweite Sieben. War der Maler betrunken, als er die Ziffern auf den Verputz pinselte? «Nein», sagt Lara Blumer und lacht: «Man sagt, die Frau des Mannes habe darauf gepocht, dass er nach der Arbeit jeweils um Punkt sieben aus der Beiz nach Hause komme. Also liess er sich etwas einfallen.»
Das Onsernone ist so ebenso eigenwillig wie die 900 Menschen, die darin leben. Das Tal oberhalb Locarnos bescherte seinen Bewohnerinnen und Bewohnern zwar reichlich Sonne, aber wenig Einkünfte und damit ein hartes Leben. Sie mussten sich zur Decke strecken, um ihr Überleben zu sichern. Seit dem 16. Jahrhundert flochten deshalb die Frauen Roggenstroh zu schmalen Bändern, verarbeiteten diese in der Folge zu Hüten, Taschen, Gürteln und belieferten damit die halbe Welt. Alle waren am Handwerk beteiligt. Männer säten den Roggen aus und schnitten diesen. Die Kinder halfen beim Bleichen, Sortieren und Wässern der Halme, säuberten die Bänder, die ihre Mütter aus sieben Halmen fertigten, von störrischen Anschnitten.
Hüte waren Exportschlager
Jahrhunderte lang waren Strohhüte aus dem Onsernonetal ein Exportschlager. Hunderttausende Hüte wurden nach Übersee geliefert. Mit der Industrialisierung schwanden die Nachfrage und damit der Verdienst. Das alte Handwerk geriet in Vergessenheit. Lara Blumer brachte es 2005 zusammen mit vier Mitstreiterinnen zurück ins Tal. Der kulturell interessierte Dorflehrer trieb alte Gerätschaften auf und organisierte einen Strohnähkurs. Seither lassen sie die alten Nähmaschinen wieder surren. An Wintertagen laufen sie besonders lang, im Sommer haben die Frauen auch anderes zu tun: im Hotel aushelfen, an Festivals jobben, da und dort einspringen. Also müssen sie zusehen, dass die Lager des gemeinsamen Shops vorher reichlich gefüllt sind. Die Strohbänder, die die Künstlerinnen verarbeiten, kaufen sie in Florenz ein, an den Hängen des Onsernonetals wächst längst kein Roggen mehr. Sonst aber folgen sie strikt den Regeln ihrer Ahninnen – und haben damit grossen Erfolg.
Auf dem Weg durch Berzona wird Lara Blumer von einer besorgten Bewohnerin angesprochen: «Allora! Was ist los, weshalb bleiben die Hutständer in deinem Geschäft fast leer?» Die Frau seufzt und zuckt mit den Schultern: «Ich weiss, aber was soll ich machen. Wir nähen, was wir können. Mehr geht nicht.» Lara Blumer öffnet die Tür des ehemaligen Gemeindehauses. Seit 13 Jahren verkaufen die Frauen darin ihre Werke. Luftige Sommerhüte mit Blumenbändern, Buchzeichen, Körbchen, Haarspangen. Tausend Sachen. Dafür haben sie 2005 eigens einen Verein gegründet: Pagliarte. Dieser wird von über hundert Gönnern und der Gemeinde unterstützt. Schliesslich tragen die Kunsthandwerkerinnen mit ihrem Wirken auch das Tal ins Rampenlicht: Gerade waren Journalisten der britischen Tageszeitung «The Guardian» und das Tessiner Fernsehen auf Besuch.
«Mamma mia», sagt Lara Blumer und seufzt: «Hoffentlich schauen den Bericht nicht allzu viele Menschen. Sonst stürmen sie danach unseren Shop.» Die Geschäfte laufen dieses Jahr besonders gut. Strohhüte gelten auch in der Stadt wieder als schick und cool. Überdies kosten die Handarbeiten der Pagliarte-Macherinnen erstaunlich wenig Geld. Den aufwendigsten Hut berechnen sie mit 120 Franken, daran arbeiten Maria Pia, Nora, Stefania und Lara gut vier Stunden. «Wir wollen, dass sich auch unsere Leute die Produkte leisten können», sagt Lara. Sie präsidiert den Verein seit drei Jahren, für eine Auswärtige eine besondere Ehre und eine ebenso grosse Verantwortung.
Garant für Kühle und Eleganz
Lange Jahre lebte die gebürtige Baslerin in der Deutschschweiz. Sie hatte in Zürich Modedesign studiert und als Flugbegleiterin gearbeitet. Vor 22 Jahren begab sie sich mit ihrem Mann auf die Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Weg führte sie in eine Bio-Gärtnerei, ins dunkle, kalte Verzascatal. Auf einem Ausflug ins Onsernone wollte das Paar über seine Zukunft nachdenken. «Wir wussten nicht, wie und wo es mit uns weitergehen soll», erinnert sich die 50-Jährige. In ihrem Elend schaute sie hoch an die Hauswand, an die sie sich gelehnt hatte, um Pause zu machen. Dort erspähte sie ein Strassenschild: Via XXI Settembre. «Mein Geburtsdatum! Damit wusste ich: Hier will ich leben.»
Nun lässt sie ihre Modekenntnisse in Strohwaren einfliessen. Was schätzt sie an diesem Material? «Es ist stabil und dennoch biegsam. Es ist natürlich und vielseitig. Es verleiht der Trägerin, dem Träger Kühle und Eleganz.» Darüber hinaus sei es ein Glücksbringer, davon ist sie überzeugt. «Das Material hat mein Leben jedenfalls zum Guten gewendet», sagt sie und schlägt hinter sich die Türe des Shops zu. Arrivederci, sie muss sich sputen. Der nächste Job wartet, spätestens um Sieben muss sie dafür parat sein.
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