Wer alleine lebt, kann dank Notrufdiensten per Knopfdruck Hilfe anfordern. In Lausanne wurde nun ein neues System mit Bewegungsmeldern entwickelt, das automatisch Alarm schlägt oder gar warnt – bevor es zum Notfall kommt.
Text: Fabian Rottmeier
Wer zu Hause ist und sich zu wenig oder gar nicht bewegt, könnte in Not sein. So lässt sich das Prinzip eines neuen Notrufsystems zusammenfassen, das an der ETH Lausanne entwickelt wurde. Das daraus entstandene Waadtländer Unternehmen DomoSafety und die gemeinnützige Solothurner Organisation Strong Age vertreiben die noch wenig bekannte Dienstleistung. Das System löst etwa dann einen Alarm aus, wenn jemand länger als üblich im Bett liegt, den ganzen Tag nie am Kühlschrank war, gestürzt ist und am Boden liegt, ohne den Alarmknopf ausgelöst zu haben – oder sich seit über einer Stunde im Bad befindet.
Nicht Kameras, sondern Bewegungsmelder, wie man sie von Aussenlichtern an Häusern kennt, sammeln dabei die notwendigen Informationen. Sie werden in jedem Raum an die Wand geklebt und melden dem Server von DomoSafety alle zwei Sekunden, ob darin eine Bewegung stattgefunden hat. Zusätzliche Installationen sind nicht erforderlich.
Sogar der Kühlschrank dient als Referenz
Das System geht noch einen Schritt weiter: Aufgrund dessen, wie sich eine Person zu Hause bewegt, kann es Warnhinweise aussenden. Wer nachts viel öfter als sonst die Toilette besucht, könnte an einer Harnwegsinfektion leiden. Wer alle 15 Minuten den Kühlschrank öffnet, ist möglicherweise verwirrt.
Hugo Saner begleitet das Projekt seit acht Jahren. Der Herzspezialist ist emeritierter Professor an der Universität Bern mit Spezialgebiet Präventivkardiologie und Programmleiter von Strong Age. Der 72-Jährige sagt, das Geniale am System sei, dass es von alleine und ohne Knopfdruck funktioniere. Das sei sicherer als mit einem Alarmknopf, da man bei schwerwiegenden Stürzen oft nicht mehr in der Lage sei, diesen zu betätigen. Die zitierten Warnbeispiele zeigt eine Studie der Universität Bern aus der Entwicklungsphase, an der auch er beteiligt war. Eine der Messungen: Die Hälfte der 25 im Schnitt 88-jährigen Probanden stürzte innerhalb eines Jahres ein bis fünf Mal. «Stolperstürze gab es dabei überraschenderweise keine. Alle Stürze waren auf Schwindelgefühle oder Schwächeanfälle zurückzuführen», sagt der ehemalige Leitende Arzt am Inselspital Bern. Eine weitere Erkenntnis: Wer sich kaum aktiv in seiner Wohnung bewegt, setzt sich einer erhöhten Sturzgefahr aus.
Individuelle Bewegungsmuster
Welche Richtlinien erfüllt sein müssen, damit ein Alarm ausgelöst wird und sich die medizinische Notrufzentrale telefonisch erkundigt, bestimmen die Nutzenden des Dienstes selbst. Diese legt man mit einer Fachperson fest, nachdem in einer zweiwöchigen Startphase die üblichen Bewegungsmuster aufgezeichnet worden sind. Möglich ist auf Wunsch auch, dass gewisse Warnhinweise oder Bewegungsrapporte über eine App an medizinische Fachleute oder Angehörige weitergeleitet werden. Dabei beteiligt ist die Notrufzentrale Medicall.
Hugo Saner ist zuversichtlich, dass das System bald auch von ersten Krankenkassen per Zusatzversicherungen anerkannt wird. Das Basis-Abo «Sicherheit 360° Tag und Nacht» inklusive Sensoren, Alarmknopf und Sturzerkennung ist ab 79 Franken pro Monat erhältlich. Es sind viele zusätzliche Optionen möglich, etwa ein Pflegebetreuungsdienst, der pro Monat zusätzlich 140 Franken kostet.
Eine wertvolle Technologie
«In der ambulanten Betreuung ist diese neue Technologie sehr wertvoll», sagt Ida Boos, Geschäftsleiterin von Pro Senectute Solothurn. Sie trage dazu bei, dass ältere Menschen so lange wie gewünscht sicher und selbstständig zu Hause wohnen können. Auch weil das System mögliche Gefahren frühzeitig erkenne. «Nachts kann man die Vitalzeichen erheben, indem man einen Gurt unter die Matratze legt. Dies verschafft einer Pflegeperson beim Eintreffen eine bessere Ausgangslage.» Der Dienst könne auch Angehörige von Menschen mit Demenz entlasten. «Es braucht wohl aber noch etwas Durchhaltevermögen, bis die Leute den Wert dieses Systems erkennen.» Dank einem Beitrag des Lotteriefonds kann Strong Age das Sensorsystem im Kanton Solothurn vergünstigt anbieten. Freiwillige Helferinnen und Helfer von Pro Senectute Solothurn, die «Digital Coaches», installieren das System.
Auch Michael Lehmann attestiert dem Sensorsystem viel Potenzial. Der Professor für Medizinalinformatik an der Berner Fachhochschule vergleicht es mit der technologischen Ausstattung eines Autos. Dort seien automatisch funktionierende Hilfen wie beispielsweise die Kurvenbremskontrolle akzeptiert und erwünscht. Beim Notrufknopfsystem würden ältere Menschen die Situation manchmal falsch einschätzen und auf einen Alarm verzichten, um niemandem zur Last zu fallen. «Eine weitere Stärke: Durch die frühzeitige Erkennung von Problemen lassen sich Spitalaufenthalte vermeiden.»
Ein Aspekt, den auch Hugo Saner betont. Die Entlastung des Gesundheitssystems werde aufgrund der demografischen Entwicklung immer wichtiger. Das haben auch die Behörden realisiert: Die Stadt Zürich hat in ihrer «Altersstrategie 2035» explizit festgehalten, neue Technologien, die ein selbstständiges Wohnen im angestammten Umfeld ermöglichen, zu fördern und unterstützen. ❋
Auch bei den Notrufknöpfen hat sich etwas getan: Nebst dem etablierten Notrufknopf gibt es mittlerweile formschöne Uhrenmodelle für Männer und Frauen, aber auch hübsche Medaillons. DomoSafety und der grösste Schweizer Anbieter SmartLife Care haben von Letzteren bereits verschiedene Modelle im Angebot. Ebenfalls erhältlich ist bei SmartLife Care auch erstmals ein Notrufgerät mit DAB+-Radio, Sprachsteuerung, Ambient-Licht als Hilfe bei einer Hörbehinderungen und grossen Tasten für Personen mit einer Sehbehinderung.
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