Unser Umgang mit psychischer Gesundheit kränkelt. Pro Mente Sana bietet Erste-Hilfe-Kurse an, in denen man lernt, Depressionen, Angstzustände, Suchtkrankheiten etc. bei anderen besser zu erkennen – und darauf angemessen zu reagieren.
Text: Roland Grüter
Müssen wir benennen, was Menschen gesund hält, fällt uns spontan ein: ausgewogene Ernährung, viel Bewegung, ein starkes Immunsystem. Körperliche Aspekte stehen im Gedankenspiel klar im Vordergrund, psychische Faktoren jedoch gehen meist vergessen. Das hat sich gerade in Corona-Zeiten erneut gezeigt. Denn in diesen Wochen wurde uns deutlich gesagt, welche Massnahmen wir gegen physische Unbill zu beachten haben – Distanz halten, Hände waschen. Über Ängste, Einsamkeit und die grosse Verunsicherung der Menschen verloren die Krisenmanager des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) indes kaum ein Wort: obwohl die Lebensumstände vielen Menschen den Atem wegschnürten. «Diese Menschen wurden mit ihren Sorgen weitgehend alleingelassen», sagt Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychisch beeinträchtigte Menschen in der Schweiz einsetzt: «Das zeigt wieder, wie wenig Gewicht wir der psychischen Gesundheit beimessen.»
Gemäss Bundesamt für Statistik stehen rund 6 Prozent der Schweizer Bevölkerung wegen psychischer Probleme in Behandlung. 15 Prozent weisen Symptome mittlerer oder hoher psychischer Belastungen auf. Fast jede(r) Zehnte leidet an Depressionen. Bedarf wäre also gegeben, unseren Blick für diese Themen zu schärfen. Weshalb also geben wir ihnen nicht mehr Gewicht? «Weil psychische Krankheiten nach wie vor tabuisiert und stigmatisiert werden», sagt Roger Staub. «Betroffene schämen sich, über ihr Leiden zu sprechen. Und den anderen fehlt es an den richtigen Worten und Erfahrungen, wie sie darauf reagieren sollen.»
Betroffene brechen das Schweigen
Oft sind es Betroffene selbst, die sich gegen das Schweigen stemmen. Sie initiieren Selbsthilfegruppen, begründen Internetseiten oder schreiben Bücher über ihre Leidensgeschichten, wie etwa der Berner Daniel Göring. Er hat seine persönlichen Erfahrungen mit Burnout und Depression im Buch «Der Hund mit dem Frisbee» festgehalten. Eben legte er sein zweites Werk zum Thema auf: «Im Wolkenkino». Darin erzählt er Kurzgeschichten, in denen er unterhaltsam die wichtigsten Schritte zum Erhalt der psychischen Gesundheit skizziert.
Pro Mente Sana hat im März 2019 einen Erste-Hilfe-Kurs lanciert, in dem die psychische Gesundheit ebenfalls im Zentrum steht. «Ensa», so der Name des Programms, will den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufzeigen, wie sich psychische Krankheiten zeigen und wie sie auf betroffene Menschen zugehen können. «Wir bilden keine Hobby-Therapeuten aus», sagt Roger Staub. «Wir wollen die Laien vielmehr dazu befähigen, in ihrem Umfeld Probleme zu erkennen und anzusprechen und Erste Hilfe anzubieten. Fast keiner habe eine Ahnung, wie genau die Psyche funktioniere, was sie gesund halte oder krank mache. «Hier fehlt es den meisten an Grundwissen», sagt Roger Staub. Diese Lücke soll «Ensa» schliessen. Im vergangenen Jahr wurden bereits 700 Erst-Helferinnen und -Helfer ausgebildet.
Nothelfer-Kurs für die Seele
Die Erste-Hilfe-Kurse «Ensa» von Pro Mente Sana werden gesamtschweizerisch angeboten. Der Kurs umfasst 12 Stunden, unterteilt in vier Module. Darin wird Wissen zu den wichtigsten psychischen Erkrankungen und Verhaltensmustern vermittelt, etwa in Rollenspielen (Kosten: 380 Franken). Die Schulung wird neu auch als Online-Seminar angeboten. Nächstes Jahr lanciert Pro Mente Sana einen zusätzlichen Kurs, der auf den Umgang mit psychischen Krankheiten älterer Menschen ausgerichtet ist. Mehr Infos dazu finden Sie unter ensa.swiss.
Das Konzept des Kurses stammt aus Australien. Er wurde vor 20 Jahren von einem Wissenschaftler und einer Betroffenen entwickelt und wird mittlerweile in 25 Ländern angewendet. Weltweit liessen sich bereits über drei Millionen Laien ausbilden. Obwohl sich darin der Blick auf andere richtet, lernt man auch sein eigenes Regelwerk besser kennen. «Es ist vergleichbar mit der Ausbildung zum Rettungsschwimmer», sagt Roger Staub. «Darin geht es ebenfalls darum, anderen in Notlagen zu helfen. Gleichzeitig lernt man aber selber besser schwimmen. Ein angenehmer Nebeneffekt sozusagen.»
Die richtige Vorgehensweise, wie man mit psychisch angeschlagenen Mitmenschen umgeht, wird im «Ensa»-Kurs in fünf Schritten zusammengefasst. Darauf verweist das Akronym «ROGER». Der Buchstaben «R» steht für Reagieren (Problem einschätzen und ansprechen; in akuten Krisen Beistand leisten und Hilfe holen). Zweitens: Offen und möglichst unvoreingenommen zuhören und kommunizieren. Drittens: Ganzheitlich unterstützen und informieren. Viertens: Ermutigen zu professioneller Hilfe. Fünftens: Ressourcen im Umfeld aktivieren, also andere einbinden. «ROGER» hilft, Krisen besser zu überstehen. Anderen, aber auch uns selber. ❋
Ein ausführliches Interview mit Kommunikationsfachmann und Autor Daniel Göring über seine Depressionen und sein neues Buch «Im Wolkenkino» lesen Sie hier.
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