
Das Biotop in uns
Früher als Keime geschmäht, heute als Schatz eingelagert: Unser Darm-Mikrobiom umfasst Tausende verschiedener Lebensformen. Und je vielfältiger es ist, desto besser für unsere Gesundheit. Doch die Darmbakterien sterben aus.
Text: Maximilian Jacobi
Der Darm war einst so beliebt wie sein Inhalt. Noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts verunglimpfte man das sechs Meter lange Verdauungsorgan als Abflussrohr des Körpers. Diese Sicht vertraten selbst anerkannte Ärzte. Beispielsweise der britische Chirurg William Arbuthnot Lane, der für seine medizinischen Leistungen zum Ritter geschlagen wurde. Er fürchtete, die damals neu im Darm entdeckten Bakterien würden die Menschen vergiften. Bei anhaltenden Verstopfungen empfahl er Patientinnen und Patienten daher eine Kolektomie – also die Amputation des Dickdarms. Einen Eingriff, den er zwischen 1908 und 1925 Hunderte Male durchführte.
Heute hat sich die Medizin mit den Darmbakterien ausgesöhnt. Zum Glück: Denn ohne sie wäre ein Leben unmöglich – wir könnten nicht eine einzige Kartoffel verdauen. Bakterien lösen aus unserem Essen die Nährstoffe. Sie bilden Vitamine. Und sie helfen, den Schleim zu produzieren, der unsere Darmwand schützt. Bakterien produzieren ein Drittel aller Stoffe in unserem Blut. Und zehn Prozent des Energiegehalts unseres Körpers.
Bakterien bilden den Hauptbestandteil unseres Mikrobioms. Das ist ein Ökosystem aus Bakterien, Pilzen und Viren, das sich überall dort befindet, wo unser Körper mit der Welt in Berührung kommt. Beispielsweise auf unserer Haut, in der Lunge oder im Mund. Dadurch wird auch verhindert, dass sich dort Krankheitserreger sammeln. Auf und in uns existieren mehr Bakterien als menschliche Zellen. Und nirgends tummeln sich mehr Bakterien als in unserem Darm. Allein das Darm-Mikrobiom macht zwei Kilogramm unseres Körpergewichts aus.
«Der gesunde Darm ist die Wurzel aller Gesundheit», soll schon der griechische Arzt Hippokrates 400 Jahre vor Christus gesagt haben. Nur warum, verstehen wir auch Tausende Jahre später noch nicht. Mittlerweile haben wir das Ökosystem im Darm zwar entdeckt. Doch die Forschung beschäftigt sich noch mit der Bestandesaufnahme: Was für Lebensformen existieren, was tun sie, was für einen Effekt haben sie auf uns? Und das bei über 1000 mikroskopisch-kleinen Arten.
So viele verschiedene Bakterien-Gattungen leben im Darm eines gesunden, jungen Menschen. Studien zeigen, dass deren Zahl im Verlauf des Lebens abnimmt. Mit 70 Jahren sind es oft nur noch um die 600 Arten. Die Darmflora verarmt. Wie wichtig ein reiches Mikrobiom ist, veranschaulichen Versuche an Mäusen. Alte Mäuse, denen man das Mikrobiom junger Artgenossen einpflanzte, lebten deutlich länger. Denn für die Darmflora gelten ähnliche Gesetze, wie für eine Wiese oder einen Wald: Je mehr gute Arten hier leben, umso widerstandsfähiger ist das Ökosystem.
Zu viele Antibiotika, einseitige Ernährung, wenig Bewegung – durch den Lebensstil in Industrieländern haben wir bereits einen grossen Teil der körpereigenen Bakterien verloren. Völker, die abgeschieden im Amazonas leben, verfügen noch über doppelt so viele Darmbakterien wie wir. Die meisten davon verschwinden, sobald Indigene in Städte ziehen. Ein winziges Massenaussterben mit grossen Auswirkungen: Die Universität Zürich lagert heute 2000 Stuhlproben aus aller Welt in einem Kotbunker bei minus 80 Grad – eine Arche Noah für Darmbakterien.
Das klingt witzig. Doch die Erhaltung der Bakterienvielfalt ist ungeheuer wichtig. Denn das Mikrobiom ist eng mit unserer Gesundheit verflochten. Wie eng, zeigen immer mehr Studien:
- Übergewichtige Menschen besitzen ein ärmeres Mikrobiom als schlanke.
- Menschen mit Allergien, Diabetes, Parkinson, Multipler Sklerose oder Krebs verfügen über ein ärmeres Mikrobiom als gesunde.
- Sogar psychische Krankheiten wie Schizophrenie, Depressionen oder Autismus hängen mit Veränderungen der Darmflora zusammen.
Nur wissen wir nicht: Was war zuerst? Ist es die Veränderung im Darm-Ökosystem, die die Krankheiten auslöst? Oder verschwinden gewisse Bakterien wegen der Krankheit? Mit anderen Worten: Das Mikrobiom ist vielleicht die Wurzel für unzählige Krankheiten – oder schlicht Opfer davon.
Diese Wissenslücke wird ausgenutzt. Unzählige Unternehmen bieten im Internet an, den Kot ihrer Kunden zu analysieren. Womit sie beurteilen wollen, ob die Darmflora Mängel aufweist oder nicht. «Ich rate von solchen Tests ab.», sagt Michael Scharl. Laut dem Gastroenterologen des Universitätsspitals Zürich sind private Kotproben zu fehleranfällig und die Resultate nicht aussagekräftig. «Noch wissen wir schlicht zu wenig.» Um Verunsicherten zu helfen, rief er eine Mikrobiom-Sprechstunde ins Leben.
Dass Wissenslücken von Quacksalbern ausgenutzt werden, bewies schon der Chirurg Sir William Arbuthnot Lane. Er hielt an den Darm-Amputationen fest. Selbst dann noch, als die Nutzlosigkeit und die hohe Sterberate solcher Operationen bekannt wurden. Seine Überzeugungen kosteten Hunderte von Menschen den Dickdarm. Und Lane letztendlich die Arztlizenz.

Die Arbeitstiere im Verdauungstrakt
Bakterien
Sie sind die häufigste Daseinsform unter unseren Darmbewohnern: Die Einzeller machen etwa 98 Prozent der Biomasse aus. Hier drei der wichtigsten Gattungen.
- Bacteroides
Sie sehen aus wie Stäbchen, existieren gekrümmt sowie gerade und sind bewegungsunfähig. Sie siedeln vor allem im Dickdarm, sobald unsere Ernährung von Muttermilch auf feste Kost umschwenkt.
Dominiert die Gattung Bacteroides unsere Darmflora, gehören wir zum Enterotyp 1. Das ist eine der drei gängigen Besiedelungsformen des Darm-Ökosystems. Bei Diäten aus Fleisch, Ei, Wurst, Butter, Käse, Rahm, Fertigprodukten, Süssgetränken und Weissbrot vermehren sich Bacteroides. Denn sie lieben Proteine, Fett und Zucker. Bacteroides produzieren Buttersäure, eine kurzkettige Fettsäure. Deren Säuregehalt hält Keime fern. Zudem nährt Buttersäure die Darmschleimhaut. - Prevotella
Sie sind nah mit den Bacteroides verwandt, was ihnen ebenfalls Stäbchenform und Unbeweglichkeit beschert.
Dominiert die Gattung Prevotella im Darm, gehören wir zum Enterotyp 2. Prevotellen kolonisieren meist Därme nicht-westlicher Menschen. Falls sie sich doch in mitteleuropäischen Därmen breit machen, dann meist in jenen von Vegetarierinnen oder Veganern. Diese Bakterien vermehren sich, wenn sie viel Obst, Gemüse und generell mehr Kohlenhydrate als Fleisch bekommen.
Prevotellen beteiligen sich beim Abbau gewisser Stoffwechselprodukte auf der Darmschleimhaut. Zudem produzieren sie Essigsäure. Die kurzkettige Fettsäure hält unseren Darm gesund. - Ruminococcus
Das sind Kugeln, rund bis oval geformt. Sie treten häufig als Paar oder in Ketten auf.
Ruminokokken dominieren in Därmen des Enterotyps 3. Sie kommen besonders gern bei Menschen vor, die sich von Kartoffeln, Nudeln und Reis ernähren. Denn ihre Spezialität ist es, bestimmte Kohlenhydrate aufzuspalten. Zerlegen Ruminokokken die sogenannte resistente Stärke, produzieren sie dabei kurzkettige Fettsäuren wie Essig- und Buttersäure. Und fördern damit die Darmgesundheit.
Archaeen
Diese Einzeller wurden einst fälschlicherweise als Urbakterium bezeichnet. Heute weiss man, dass sie eine ganz eigene Form zellulären Lebens darstellen. Sie kommen am zweithäufigsten vor in unserem Darm – dabei machen sie gerade mal ein Prozent der Gesamtmasse des Mikrobioms aus.
Ein besonders häufiger Vertreter der darmeigenen Archaeen ist der Methanobrevibacter smithii. Wie der Name schon suggeriert, produziert der Einzeller das Gas Methan. Wozu diese Kleinstlebewesen genau in unserem Mikrobiom leben und was für einen Effekt sie auf das Darm-Ökosystem haben, ist noch unerforscht.
Pilze
Das Mykobiom macht nur einen winzigen Teil der Biomasse unseres Darm-Mikrobioms aus. Den Weg in unseren Verdauungstrakt finden die Pilze meist über unsere Ernährung. Besonders häufig wachsen in uns Hefepilze. Saccharomyces cerevisiae, besser bekannt als Backhefe, lebt vorwiegend im Darm. Candida albicans hingegen ist sowohl im Mund wie im Darm zu Hause. Gerät das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht, kann sich Candida albicans ausbreiten und uns krank machen.
Viren
Die wichtigsten Darmbewohner des Viroms sind Bakteriophagen. Ihnen obliegt die Bevölkerungskontrolle. Die Phagen befallen bestimmte Bakterien. Damit sorgen die Viren dafür, dass keine Bakterien-Population in unserem Darm überhandnimmt. Die Zahl der Phagen im Mikrobiom übersteigt eigentlich die der Bakterien. Da sie aber so klein sind, machen sie weniger als ein Prozent der Biomasse aus, Bakterien dagegen fast das gesamte Mikrobiom.
«Wer selbst kocht, hilft seinen Darmbakterien.»

Adrian Egli (46)
forscht seit 20 Jahren im Bereich der Mikrobiologie. Er ist Direktor am Institut für Medizinische Mikrobiologie der Universität Zürich, wo er eine Forschungsgruppe leitet. Er ist zudem im Pilotteam des «Microbiota Vault», des Kotbunkers an der Universität Zürich.
Was kann ich meinen Darmbakterien Gutes tun?
Bunt und ballaststoffreich essen. Aus Ballaststoffen bilden Bakterien Stoffe, die gut für uns sind. Beispielsweise kurzkettige Fettsäuren, die unter anderem die Darmschleimhaut fördern. Mit unserer Ernährung füttern wir immer gewisse Bakterien, andere nicht. Je vielseitiger und natürlicher wir uns ernähren, umso mehr Bakterien-Arten können in unserem Darm leben. Also viel Gemüse, Vollkornprodukte, Nüsse und Früchte.
Trotzdem schwindet die Artenvielfalt mit der Zeit – ist das Alter per se schlecht für den Darm?
Nein, das Alter hat auch gute Seiten. Mit der Pension hätte man mehr Zeit. Und wer sie sich nimmt, um zu kochen oder etwas zu fermentieren, der hilft auch seinen Darmbakterien. Fermentierte Lebensmittel sind ein interessantes Beispiel. Sauerkraut zum Beispiel fördert die Artenvielfalt im Darm. Aber weniger, wenn man es nur im Supermarkt kauft. Dort kommt es von Grossproduzenten, jede Packung hat die gleiche Bakterien-Kultur. Es ist besser, es auf dem Markt zu kaufen oder selbst herzustellen. Jedes Fass Sauerkraut hat seine eigene Bakterien-Komposition.
Hat das Alter sonst noch gute Nebeneffekte?
Das Karriere-Ende kann sich positiv auswirken. Denn Stress beeinflusst den Darm und das Mikrobiom ebenfalls. Unter anderem, weil das Stresshormon Cortisol mit dem Mikrobiom interagiert.
Was beeinflusst das Darmwohlbefinden sonst noch?
Wer schon nachts arbeitete oder bis spät feierte, weiss, dass sich Schlaf auf unsere Verdauung auswirkt. Genug davon ist sicher wichtig. Und ein bewegungsreiches Leben hilft dem Darm auch. Ein aktiver Stoffwechsel beeinflusst das Mikrobiom positiv. Wodurch auch das Mikrobiom wiederum den Stoffwechsel positiv beeinflusst.
Worauf soll man verzichten?
Rauchen und zu viel Alkohol vergiften unser Darm-Mikrobiom. Und Antibiotika vernichten einen Grossteil unserer Mikroorganismen. Man sollte sie nur einnehmen, wenn es nicht anders geht.
Woran merkt man, dass mit dem Mikrobiom etwas nicht stimmt?
Wenn Sie regelmässig an Durchfall, Blähungen oder sonstigen Darmbeschwerden leiden.
Sollte man sich dann einen Test im Internet bestellen?
Bloss keine Ferndiagnosen! Ich erhalte regelmässig Mails von Leuten, die von den Resultaten solcher Selbsttests verunsichert sind. Tests gehören professionell durchgeführt und die Resultate eingeordnet. Ich empfehle die Mikrobiom-Sprechstunde am Unispital Zürich. Oder einen Besuch beim Gastroenterologen.
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