Ausflüge und Veranstaltungsbesuche werden im Verlauf einer Demenzerkrankung seltener. Umso wichtiger, dass es Angebote wie die Führungen im Zoo Zürich gibt: Hier erleben Betroffene und ihre Begleitpersonen unbeschwerte Momente.
Text: Annegret Honegger
Schildkrötendame Nigrita ist die älteste Bewohnerin des Zürcher Zoos: Bald achtzig Jahre lebt sie bereits hier. Ihr Partner Jumbo bringt ganze 215 Kilogramm auf die Waage. Fasziniert blickt die Gruppe von Zoo-Führerin Patrizia Wunderlin durch die dicke Glasscheibe auf das dösende Paar und seinen Nachwuchs, der noch recht unbeholfen durchs Gehege stolpert. Die aus- gebildete Tierärztin zeigt an einem Schildkrötenpanzer, dass dieser von Nerven und Blutbahnen durchzogen und deshalb nicht einfach hart und empfindungslos ist: «Nigrita, Jumbo und Co. spüren und mögen es durchaus, wenn man sie streichelt.»
Das Schildkrötenhaus ist heute die letzte Station auf dem Zoo-Rundgang für Demenz-Betroffene und ihre Begleitpersonen, den Alzheimer Zürich, unterstützt von der Zürcher Kantonalbank, vier Mal im Jahr anbietet. Die Organisation will damit die soziale Teilhabe von Menschen mit Demenz fördern. «Viele Betroffene ziehen sich nach ihrer Diagnose zurück, weil sie befürchten, unangenehm aufzufallen», erklärt Co-Geschäftsleiterin Caroline Grünwald, «hier sind alle in der gleichen Situation und können entspannt ein bereicherndes Erlebnis geniessen.»
Im Schildkrötenhaus werden Erinnerungen an frühere Zoobesuche und fröhliche Stunden mit den eigenen Kindern wach. Auch der Regenbogen-Papagei sorgt für Momente des Staunens und der Freude. © Zoo Zürich/ Enzo Franchini
Dieses knüpft an die fröhlichen Stunden an, die viele als Kind oder später mit den eigenen Kindern im Zoo verbrachten – Erfahrungen, die im Langzeitgedächtnis erhalten bleiben. «Die Atmosphäre im Zoo regt die Sinne an und weckt schlummernde Erinnerungen», sagt Caroline Grünwald. Wer eine gute Beziehung zu Tieren und der Natur habe, blühe bei den Rundgängen oft richtig auf.
Co-Geschäftsleiterin Beatrice Gfeller schult die Zoo-Führerinnen und Zoo-Führer für ihre Einsätze. «Weniger ist mehr», betont sie, «zu viele Reize verunsichern Demenz-Betroffene.» Wissen wird deshalb in kleinen Portionen vermittelt. Die Rundgänge sind kürzer, das Tempo gemächlicher und die Gruppen überschaubar, weil die Teilnehmenden rasch ermüden und Zeit brauchen, um Eindrücke zu verarbeiten. Selbst wenn manche kaum reagieren, ist die Fachfrau überzeugt: «Es kommt mehr an, als wir denken. Und das Erlebte wirkt lange nach.»
Erlebnis mit allen Sinnen: In der Australien-Anlage dürfen die Teilnehmenden ein Emu-Ei anfassen. Und Zoo-Führerin Patrizia Wunderlin zeigt anhand einer Bussard- und einer flaumigen Emu-Feder, weshalb der Laufvogel damit nicht fliegen kann. © Zoo Zürich / Birte Fröhlich
Patrizia Wunderlin weiss auch aus Erfahrung mit ihrem eigenen Vater, dass Pausen und Geduld ebenso wichtig sind wie eine klare Sprache, Mimik und Gestik und ein Erlebnis mit allen Sinnen. In der Australien-Anlage dürfen die Teilnehmenden ein von der Zoo-Führerin mitgebrachtes Emu-Ei anfassen, das sich mit seiner smaragdgrünen Farbe hervorragend im Steppengras tarnt. Beim Vergleich einer Bussard-Feder mit einer flaumigen Emu-Feder fühlen sie selbst, warum der Laufvogel damit nicht fliegen kann.
«Siehst du den Leguan dort unter der Wärmelampe faulenzen?» «Trägt das Känguru vielleicht ein Junges im Beutel?» Es gibt viel zu sehen, zu hören und zu besprechen. Auch die Frau, die öfter nach dem Heimweg fragt, beobachtet ganz konzentriert, wie ein Regenbogen-Papagei seine bürstenartige Zunge mehrmals pro Sekunde ein- und ausfährt, um Nektar aus einem Schälchen zu lecken. Es sind solche Momente des Staunens und Lachens, die den Anlass wertvoll machen: Sie sind selten geworden im Alltag, den oft Frust und Trauer prägen, weil wegen der Krankheit vieles nicht mehr klappt.
Die gemeinsame Erfahrung lässt die Angehörigen beim Abschluss im Zoo-Restaurant rasch ins Gespräch kommen. Sie alle wissen, wie viel Kraft die Begleitung von Menschen mit Demenz tagtäglich kostet. Wie es sich anfühlt, wenn sich Rollen und Beziehungen mehr und mehr verändern. Und wie die Krankheit einen geliebten Menschen Stück für Stück verschwinden lässt. «Hier fühle ich mich verstanden, kann einfach kommen und geniessen», sagt eine Tochter, die ihre Mutter begleitet. Ein Ehepaar aus Schaffhausen findet: «Solange wir können, geniessen wir das Leben. Auch wenn wir abends beide total ‹uf de Stümpe› sind.»
Ein besonderes Erlebnis für Menschen mit Demenz
Seit 2018 bietet Alzheimer Zürich mit dem Zoo Zürich jeweils im April, Mai, August und September Führungen für Demenz-Betroffene, ihre Angehörigen oder Betreuungs- personen an. Nach dem Rundgang sind die Teilnehmenden zu einem Getränk und Gebäck eingeladen. Das Angebot ist dank der Unterstützung der Zürcher Kantonalbank kostenlos.
Nächste Daten: 19. August und 18. September 2025.
Die Teilnehmerzahl ist beschränkt. Anmeldung: Alzheimer Zürich, Telefon 043 499 88 63, Mail info@alz-zuerich.ch
In der Schweiz sind mehr als 150 000 Menschen von einer Form der Demenz betroffen. Jede Viertelstunde erkrankt jemand neu. Zwei Drittel sind Frauen und rund 5 Prozent jünger als 65 Jahre. Am häufigsten ist die Alzheimer-Demenz. Informationen und Anlaufstellen unter alzheimer-schweiz.ch